Eurovision – ein sich öffnender Wettbewerb
Mit einem Sieg Italiens (524 Punkte) für die Indie-Rockband Måneskin und ihren Titel Zitti E Buoni ging am frühen Sonntagmorgen der 65. Eurovision Song Contest in Rotterdam zu Ende. Auf den Plätzen dahinter folgten Frankreich (499 P.), die Schweiz (432 P.), Island (378 P.) und die Ukraine (364 P.). Der deutsche Teilnehmer Jendrik belegte mit 3 Punkten den 25. und damit vorletzten Platz.
Öffnung für das Live-Publikum
„Open Up“ lautete in diesem Jahr das Motto der größten Musikshow der Welt und war damit jeder derzeit laufenden Öffnungsdiskussion einen Schritt voraus.
Geöffnet wurde der Wettbewerb für Live-Publikum. Etwa 3500 Zuschauer:innen konnten die Show in der Halle miterleben. Da sie Teil eines wissenschaftlichen Programms und alle zuvor negativ auf Corona getestet waren, konnten die über 100 Millionen TV-Zuschauer weltweit (in Deutschland waren es gut 7 Millionen) feiernde und jubelnde Fans ohne Gesichtsmasken in ausgelassener Atmosphäre erleben.
Die Musiker:innen auf der Bühne zeigten sich überwältigt, endlich mal wieder mit Live-Applaus belohnt zu werden; viele Fans an der Bildschirmen bekamen Hoffnung auf eine Rückkehr der Alltäglichkeit und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte im ZDF vor genau diesen Bildern. Er halte dies für verfrüht.
Damit dies möglich wurde, unterlagen alle Künstler:innen, Delegationen, Journalisten:innen, Caterer oder Bühnenarbeiter:innen einer strengen Testpflicht und Abstandsregeln.
Auch wenn ausgerechnet im Finale die isländische Band sowie der Vorjahressieger Duncan Laurence wegen positiver Coronatests nicht live auftreten konnten, so war die Bilanz des Sicherheitskonzepts bis dahin sehr ermutigend: bei insgesamt etwa 25.000 durchgeführten Tests seit Anfang April wurden nur 16 Personen positiv getestet.
Wie die Rate nach dem Wettbewerb unter dem Hallenpublikum ausfallen wird, muss natürlich beobachtet werden.
Rotterdam hat zu dieser Öffnung enorme Anstrengungen unternommen: obwohl die Gastgeberstadt auf Geldströme verzichten musste, die anreisende Fans sonst in die Show- und Partywoche investiert hätten, schmückte sich die Stadt in den Farben und Flaggen des ESC, montierte eine Eurovisions-Ampel und versuchte natürlich online und in der Show ausgiebig, die Reiselust des Corona-geplagten Europas auf sich selbst zu richten.
Öffnung zu Vielfalt
Aber der ESC hat sich, wenn man das Ergebnis betrachtet, auch in anderer Hinsicht geöffnet.
So ist der Sieg des Glamour-Rocks der italienischen Sieger Måneskin mit ihrem Protestsong gegen Konformität in der Gesellschaft („Wir mögen verrückt sein, aber wir sind anders als die anderen“) und ihrem unkonventionellen, genderfluiden Auftreten trotz vorangegangener Favoritenposition bei den Buchmachern als etwas Besonderes zu werten. (Erst einmal gab es eine Rockband als Gewinner: 2006 mit Lordi).
Doch auch darüber hinaus zeigte sich in den Wertungen des Televotings, dass im Jahr 2 der Pandemie der Publikumsgeschmack dem stromlinienförmigen, radiotauglichen Pop – oft aus skandinavischen Eurovisions-Schmieden (Ergänzung wegen Missverständlichkeit, 19:00h: „oft boshaft“ Euro-Trash genannt) – eine Abfuhr erteilt hat.
Stattdessen profitierten außergewöhnliche und polarisierende Titel und mehrere Künstlerinnen und Künstler, die nicht für den Wettbewerb gecastet wurden, sondern ihre eigenen Titel und ihre eigene Geschichte als Musiker:innen mitbrachten. Unser Kollege Marco Schreuder vom österreichischen Merci, Chérie-Podcast hatte diese Beobachtung in der Finalnacht als Erster festgehalten:
Hinter Italien platzierten sich zwei französisch-sprachige Chansons, die durch den 50%-Stimmenanteil der Jurys profitierten: auf dem zweiten Platz der mit viel Verve vorgetragene, auf eine Klimax hindrängende Walzer Voilà von Barbara Pravi, die an die große Piaf erinnerte.
Und auf dem dritten Platz ein sehr artifiziell inszeniertes, in höchsten Kopftönen klagendes Tout l’Univers des jungen Schweizers Gjon’s Tears. Er hatte die Höchstpunktzahl im Jury-Voting erreicht.
Der bewusst überinszeniert vorgetragene Song 10 Years der isländischen Formation Daði og Gagnamagnið wurde vom nerdigen Wahlberliner Daði Freyr in seinem Schöneberger Studio kreiert und mit Freunden und Familienmitgliedern auf die Bühne gebracht – Platz 4, obwohl die Band wegen einer Corona-Infektion nicht live auf der Bühne stehen konnte.
Platz 5 belegte die ukrainische Band Go_A mit Shum, was schlicht Lärm bedeutet. Traditioneller Schreigesang gepaart mit hartem Techno erreichte in der Publikumsgunst sogar den zweiten Platz!
Mehr Diversität wagen
Die Liste auffällig ungewöhnlicher Erfolge lässt sich mit Hard-Rock aus Finnland (Blind Channel – Platz 6), kultigem Synthesizer-Pop aus Litauen (The Roop – Platz 8), einem feministischen Ethno-Rap aus Russland (Manizha – Platz 9) und der portugiesischen Retro-Band (The Black Mamba – Platz 12) fortsetzen.
In den Top-5 findet sich zudem nur ein in Englisch vorgetragener Titel – der Eurovision Song Contest hat sich geöffnet – zu mehr Diversität und wie manche sagen: Qualität!
Vermutlich werden viele Planungen in Songschmieden und Senderabteilungen für 2022 in Italien nun eben dies zu berücksichtigen versuchen, dürften dabei aber übersehen, dass es zu einem Sieg keine Strategie, sondern Authentizität braucht. Dennoch könnte zumindest für Deutschland einmal festgehalten werden: es darf auch in der Landessprache gesungen werden!
Deutschland chancen- und kopflos
Ja…Deutschland…was sollen wir da nur schreiben?!
Als chancenlos erwies sich der deutsche Titel. Jendrik belegte mit I Don’t Feel Hate den vorletzten Platz mit 3 Punkten. Aus dem Televoting bekam er keine Punkte, ein Schicksal, das er mit den Niederlanden, Spanien und Großbritannien teilt. Den Vorsprung auf Großbritannien verdankt er lediglich 1 Jurypunkt aus Rumänien und 2 aus Österreich.
Jendrik selbst zeigte sich nach der Show in einem Statement allerdings zufrieden: er habe Spaß gehabt, sein Traum, am ESC teilzunehmen sei in Erfüllung gegangen.
„Ich bin glücklich“, sagte er. „Seit ein paar Monaten habe ich gemerkt, dass es mit meinem Song international wohl nicht so gut läuft. Aber mein Ziel war es hierher zu kommen und ich habe die deutschen Jurys überzeugt und bin jetzt hier“.
Er habe mit einem tollen Team gearbeitet und immerhin neue Follower gewonnen. Aber seine Erklärung, in Zukunft lieber einen Song wählen zu wollen, der auch international ankäme – er habe seinen Song speziell mit Blick auf die deutschen Auswahljurys ausgesucht -, sorgte in den sozialen Medien für Protest. Das Video seines kurzen Presseauftritts wurde inzwischen auf dem youtube-Kanal von esc-kompakt bereits mehr als 40.000-mal angesehen.
Vor allem das Finale habe ihm riesige Freude gemacht. „So soll ESC doch sein. Heute haben wir endlich erlebt, was der ESC eigentlich bedeutet, nämlich zusammen zu sein und zusammen zu feiern.“
Am Pfingstsonntag räumte er in einem Posting auf Facebook ein, „besser keine Interviews mehr betrunken geben zu wollen“ – tatsächlich wirkte Jendrik zumindest leicht beschwipst und hatte erklärt, wie großartig es sich angefühlt habe, während der Show im Green Room mal alle Coronaregeln beiseitegelassen und mit den anderen Künstlern gefeiert zu haben
Wie das deutsche Team gerade zu Zitti E Buoni der Italiener im Greenroom abfeierte, war auf den TV-Bildern zu sehen gewesen. Jendrik sagte dazu, er fände die italienischen Sieger „geil, sexy und supersympathisch. Die haben es verdient und ich gönne es ihnen zu 100%“.
Dieses Statement könnte als Lehrstück für ein PR-Desaster in die Geschichte eingehen. Dass Jendrik sich den Frust und die Enttäuschung von der Seele spülte und plapperte, während er dabei eine Argumentationskette aufbaute, die er nüchtern und in den nächsten Tagen so sicher nicht wiederholen wird, ist nachvollziehbar. Da muss auch nicht das Netz in einem Shitstorm über ihn herfallen.
Der NDR verschließt die Augen
Die „Augen-zu-und-durch“-Erklärung der deutschen Delegationsleiterin Alexandra Wolfslast dagegen hörte sich doch realitätsfern an:
„Mein Herz schlägt für den wunderbaren Jendrik und sein Team: Das war ein perfekter Auftritt, eine in sich schlüssige Inszenierung mit einer wichtigen Botschaft. Dass Musik polarisiert und Geschmackssache ist, wussten wir auch. Trotz aller Enttäuschung – Jendrik hat seinen Traum vom ESC mit uns gelebt ! Wir sind stolz auf ihn.“ (Presseerklärung vom 23.5.)
Alex Wolfslast muss hier allerdings für eine Strategie den Kopf hinhalten, die vom bisherigen ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber entwickelt und dominiert wurde.
Der NDR hat viel Geld in die Song- und Künstlerauswahl gesteckt – mit zwei Jurys und den Unternehmensberater:innen der Agentur Simon-Kucher. Und man hatte sich definitiv in diesem Jahr mehr erwartet. Immerhin war es mal eine bunte Inszenierung. Es gab Choreographie mit Tanz – etwas, worauf wir lange gewartet hatten.
Doch während das von Jendrik selbst produzierte Musikvideo noch eine Geschichte zu transportieren vermochte – egal ob man den Song mochte oder nicht, so muss die Übertragung auf die Rotterdamer Bühne als misslungen bewertet werden.
Die Verantwortung für die deutschen ESC-Acts der vergangenen Jahre von der Kooperation mit Stefan Raab, von Lena und Roman Lob bis zu Michael Schulte trug der ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber – aber auch für all jene Jahre auf hinteren Plätzen, sowie das derzeit praktizierte, wenig transparente Auswahlverfahren.
Schreiber hat den NDR inzwischen verlassen; Jendrik war sein letztes ESC-Projekt. Man kann nur noch bangen, wie es für Italien 2022 weitergehen wird.
Abstruse Drogenvorwürfe
Bereits kurz vor dem Sieg Italiens kursierten Mitschnitte des TV-Bildes im Netz, auf denen der italienische Leadsänger Damiano beim Einziehen einer Koks-Linie im Greenroom zu sehen sein soll.
Ein Glas sei heruntergefallen und zerbrochen, erklärte Damiano auf der anschließenden Pressekonferenz. Er habe sich gebückt, um danach zu sehen. Die Band bot an, sich sofort einem freiwilligen Drogentest zu unterziehen. Die Europäische Rundfunkunion untersuchte den „Vorfall“ und bestätigte die Aussage der Band. Ein zerbrochenes Glas habe sich unter der Sitzgruppe auffinden lassen.
Auch wenn mahnende Stimmen im Netz darauf hinweisen, dass der Mitschnitt keinesfalls das Ziehen einer Koks-Line zeigen könne – es ging viel zu schnell, weder Hände noch ein Röhrchen seien im Spiel gewesen – die Versuche der Diskreditierung gehen weiter und werden leider von zu vielen unreflektiert übernommen. Wenn den ESC eine Rockband gewinnt, dann müssen ja zwangsläufig Drogen im Spiel sein, scheint die landläufige Meinung zu sein.
Wir wollen hier bewusst auf das Einbetten entsprechender „Beweise“ aus den sozialen Medien verzichten.
UPDATE: (19:00 h):
Erwartungsgemäß brachte der freiwillige Drogentest bei Leadsänger Damiano ein negatives Resultat. Die Vorwürfe haben sich als Fake-News und Verleumdung herausgestellt.
Die EBU schreibt dazu:
„Wir sind alarmiert, dass unsaubere Spekulationen, die zu falschen Nachrichten führten, den Geist und das Ergebnis des Events überschattet und die Band unfair getroffen haben“.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
2022 in Italien – und den USA
Der nächste Song Contest wird 2022 in Italien stattfinden – in welcher Stadt steht aber noch nicht fest. Das Interesse in diesem Jahr war nicht zuletzt aufgrund der Pandemie groß und die Marke „Eurovision“ hat sich gut präsentiert.
Erst vor einer Woche hat die EBU die Pläne zur Etablierung eines Spin-Offs für die USA präsentiert. Der Sender NBC will 2022 einen entsprechenden Contest für alle 50 US-Staaten, sowie Washington DC und alle Außengebiete ausrichten. Die Aufbauarbeit hierfür leisten Veteranen wie die schwedischen Produzenten Christer Björkman und Ola Melzig, die schon auf den ESC großen Einfluss genommen hatte.
Danke für die gehaltvolle und geradlinige Berichterstattung! Mit Blick auf Italien: Voll Erwartung und Lust aufs nächste Mal !Erholt Euch erst mal richtig und kommt gesund in den Alltag .
Buon lavoro. A Roma. Ciao