Klar und eindeutig gewann die Ukraine mit dem Kalush Orchestra und ihrem Song Stefania Samstagnacht den 66. Eurovision Song Contest in Turin mit 166 Punkten Vorsprung vor Großbritannien. Schweden wurde Dritter. Platz 4 und 5 belegten Spanien und Serbien.
Malik Harris belegte für Deutschland den 25. und damit letzten Platz.
Das Kalush Orchestra zeigte sich nach dem Sieg überwältigt. Mit einem Hilferuf wies Rapper und Sprachrohr der Band Oleh Psiuk nach dem Auftritt auf die humanitäre Situation der Ukraine hin und rief ins Publikum: „Ich bitte Euch alle: Helft der Ukraine, Mariupol und den Menschen im Asow-Stahlwerk.“
Ein vorhersehbarer und politisierter Sieg?
Sofort nach dem Ergebnis kamen Vorwürfe auf, der Sieg habe vor allem politische Ursachen und sei allein auf Solidarität und Mitleid zurückzuführen. Doch die Ukraine wurde bereits vor dem Angriff Russlands bei den Wettbüros unter den Top-5 geführt.
Aber natürlich hat auch die Solidarität eine Rolle gespielt. Der ESC war noch nie frei von Politik, vor allem aber noch nie frei von Gefühlen. Das Schicksal der jungen Männer aus der Ukraine, die vom Militärdienst befreit als Botschafter ihrer Kultur zum Wettbewerb geschickt wurden, und die Begeisterung, mit der sie ihren energiegeladenen Mix aus ukrainischer Folklore und harten Rap-Parts vorstellten, hat einfach überzeugt.
Ihr Sieg ist klar auf ein überragendes Abschneiden im Televoting zurückzuführen. Sie bekamen vom europäischen Publikum 439 von 468 maximal möglichen Punkten, das sind 93,8 Prozent. Aus 28 Ländern erhielten sie 12 Punkte (so auch aus Deutschland), von 8 Ländern 10 und von 2 Ländern 8 Punkte. Lediglich aus Serbien waren es nur 7 Punkte.
Eindeutiger kann ein Votum nicht sein. Europas Televoter haben damit fast mit einer einzigen Stimme gesprochen, sie haben Herz gezeigt und selten war sich Europa so einig.
Starke Diskrepanz zwischen Jurys und Publikum
Anders sah es bei den Jurys aus, die wie das Televoting die Hälfte der Punkte vergeben. Hier erhielt das Kalush Orchestra Punkte aus 26 Ländern, aus 13 Ländern jedoch keinen einzigen Punkt. Deutschlands Jury (Michelle, Max Giesinger, Tokunbo, Jess Schöne und Christian Brost) vergab 10 Punkte an die Ukraine (den ersten Platz belegte bei ihr der Brite Sam Ryder mit Space Man).
Auffällig ist an den Jurywertungen, dass aus den Ländern, die für sich selbst große Siegchancen sahen, kein einziger Jurypunkt an die Ukraine ging: Italien, Spanien, Großbritannien, Schweden und Serbien.
Im diesjährigen Jahrgang waren in vielen Beiträgen die Auswirkungen der Pandemie zu spüren: es gab überdurchschnittlich viele schwere und düstere Themen. In knapp zehn Beiträgen ging es um auseinander gebrochene und toxische Beziehungen. Bei den Jurys kam das an – für diese Titel gab es weitaus mehr Punkte als vom Publikum.
Die Televoter hingegen wollten nach zwei Pandemiejahren endlich wieder unbeschwert und fröhlich feiern: Mit der Ukraine an der Spitze, gefolgt von Folkore-Rock aus Moldawien, dem Latino-Pop aus Spanien und einer rhythmischen Inszenierung aus Serbien genossen energiegeladene Titel den Vorzug vor Solonummern oder Balladen.
Der ukrainische Sieg und die Folgen
Die Ukraine wird alles versuchen, dass der Wettbewerb im nächsten Jahr in der Ukraine ausgetragen wird. Das wurde auch vom Rapper und Songwriter Oleh Psiuk (Markenzeichen: rosafarbener Hut) bereits in den letzten Tagen mehrfach betont. Dies dürfte den Verantwortlichen etliche schlaflose Nächte bereiten. Zumindest hat der Eurovisionschef Martin Österdahl der ukrainischen Delegation traditionsgemäß nach der Show das „Welcome-Buch“ überreicht, das den Schlüssel zur Ausrichtung des ESC darstellt. Doch klar ist: Die EBU wird einen Plan B für einen Ersatz in einem anderen Land der Eurovision vorbereiten müssen.
Deutschland verharrt auf den 25. Platz
Für Deutschland endete der Abend wie im letzten Jahr mit einem Fiasko. Von den Jurys gab es als einziges Land 0 Punkte. Mit je zwei Punkten der Televoter aus Österreich, der Schweiz und Estland wurde ein 20. Platz im Televoting vor Tschechien, Belgien, Aserbaidschan, Australien und der Schweiz erreicht. Doch mit 6 Punkten insgesamt blieb nur die rote Laterne in der Tabelle.
Malik Harris war durchaus enttäuscht, betonte aber in einem Statement nach der Show gegenüber der Presse, dass er sich über den Sieg der Ukraine riesig freue. „Das ist es, was Eurovision ausmacht: Gemeinsamkeit, Frieden, ganz Europa zusammenzubringen, Musik zu zelebrieren, das alles haben wir heute gemacht. Und dann zu sehen, dass die Ukraine gewinnt, das hat für mich einen großen Wert!“
Das Debakel des NDR
Über die Rolle des NDR als federführender Sender bei dem erneuten Debakel wird nun zu diskutieren sein. Außer einem vierten Platz im Jahr 2018 gab es keine Erfolge für Deutschland mehr. Es wurden Konzepte entworfen, eingekauft und verworfen. Mit der Idee, in diesem Jahr „Radiotauglichkeit“ als Kriterium für die Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten heranzuziehen, beweist der Sender nach Einschätzung vieler Experten, dass er nach so vielen Jahren den Song Contest nicht verstanden habe.
Malik Harris Radiostars wurde in deutschen Formatradio-Sendern viel gespielt und erreichte die Charts. Und der 24jährige Sänger hat in Turin perfekt abgeliefert und eine sehr professionelle Figur gemacht.
Für einen Erfolg beim Song Contest braucht es aber das Einzigartige, Auffallende und Herausstechende – das besondere Momentum, das die Jurys ebenso überzeugt wie die Zuschauer und Zuschauerinnen zum Telefon greifen lässt. Kalush Orchestra und etliche andere Beiträge hatten dies, der deutsche Beitrag nicht.
Die längste Show seit langem
Bereits in den Programmzeitschriften war auf 00.45 Uhr verlängert worden – tatsächlich dauerte das Finale dann bis 1:00 Uhr.
Opening
Einer der Höhepunkte war für uns das Opening. Vor der Show wurde in der Halle Let’s Give Peace A Chance geprobt. Dass eine Halle so mitsingt, das gab es zuletzt nach unserer Erinnerung 2008 in Belgrad. Hier wurde es mehrfach eingesetzt: neben dem Opening noch mal, als Laura Pausini in einer Moderation Nel blu dipinto di blu (Volare) anstimmte und auch beim italienischen Beitrag Brividi war zumindest der italienische Teil des Publikums textsicher. Es machte uns jedes Mal heftige Brividi! Doch als der inszenierte tausendköpfige Flashmob auf der Piazza di San Carlo das Friedenslied anstimmte, war die Gänsehaut am größten. Und als dann noch Laura Pausini in ihrem Medley den eurovisionären Kleiderwechsel zur Vollendung brachte, war für uns das Opening perfekt.
Flaggenparade
Vor der Flaggenparade sammelten sich alle Künstler:innen hinter der „Sonne“ und unsere Sitzplätze in der Halle, die leicht hinter der Bühne lagen, erwiesen sich als unbezahlbar, da wir Auf- und Abbauten und eben auch den Einzug der Sänger:innen von nahem verfolgen konnten.
Intervall-Acts
Gab es gestern noch Buhrufe im Juryfinale, weil Besucher:innen, die viel Geld investiert hatten, statt den Vorjahressiegern Måneskin nur Stand-Ins, also Statisten, zu sehen bekamen, wurde heute klar, dass Damiano wohl nur unter extremen Schmerzen auftrat. Aber richtig enttäuschend war, den Siegertitel von Rotterdam Zitti e buoni nicht noch einmal erleben zu dürfen.
Der Auftritt der ersten italienischen ESC-Siegerin von 1964, der damals 16jährigen Gigliola Cinquetti zeugte von Respekt der italienischen Gastgeber vor ihrer eigenen ESC-Geschichte. Die heute 74jährige sang noch einmal Non Ho l’Età.
Und schließlich durfte auch Mika ein Medley seiner Hits zum Besten geben – großartig inszeniert mit einem riesigen Herzen und Herz-Flaggen aller Zuschauer:innen. (Wobei nicht ganz einleuchtete, dass es in diesem Jahr kein Flaggenmeer im Publikum gab, weil nicht mal die kleinste Fahnenstange mitgebracht werden durfte, während uns gestern derer 12000 auf den Sitzplätzen erwarteten.
Ob es am Fernseher manchem oder mancher zu lang und zu spät wurde, können wir nicht beurteilen – in der Halle war die Stimmung riesig und die Show wurde genossen.
Gastgeber
Überhaupt haben sich die italienischen Gastgeber als sehr gute Gastgeber erwiesen. Und auch die Panne mit der während der Auftritte nicht als drehbar zur Verfügung gestandenen „Bühnensonne“ (die Licht-LED-Wand im Hintergrund der Bühne) war am Ende nahezu vergessen.
Nicht so schnell vergessen wird der Ärger über die EBU sein. Ihr Konzept der Ausgrenzung von Fans und der Verlagerung auf Homeoffice für Fanmedien und Regionalpresse mit der Folge leerer und auch für die Delegationen unbefriedigender Pressekonferenzen wird uns vermutlich in den nächsten Jahren noch mehr beschäftigen. Die EBU kommerzialisiert den Wettbewerb und verdrängt Presse zugunsten der Schaffung ihres eigenen Contents und der gewinnträchtigen Vermarktung der PR-Arbeit an Unternehmen wie TikTok.
Das vollständige Ergebnis
- Ukraine: Kalush Orchestra | „Stefania“, 631 Punkte
- Großbritannien (UK): Sam Ryder | „Space Man“, 466 Punkte
- Spanien: Chanel | „SloMo“, 459 Punkte
- Schweden: Cornelia Jakobs | „Hold Me Closer“, 438 Punkte
- Serbien: Konstrakta | „In corpore sano“, 312 Punkte
- Italien: Mahmood & Blanco | „Brividi“, 268 Punkte
- Moldau: Zdob și Zdub & Fraţii Advahov | „Trenuleţul“, 253 Punkte
- Griechenland: Amanda Georgiadi Tenfjord | „Die Together“, 215 Punkte
- Portugal: Maro | „Saudade, saudade“, 207 Punkte
- Norwegen: Subwoolfer | „Give That Wolf A Banana“, 182 Punkte
- Niederlande: S10 | „De Diepte“, 171 Punkte
- Polen: Ochman | „River“, 151 Punkte
- Estland: Stefan | „Hope“, 141 Punkte
- Litauen: Monika Liu | „Sentimentai“, 128 Punkte
- Australien: Sheldon Riley | „Not The Same“, 125 Punkte
- Aserbaidschan: Nadir Rustamli | „Fade To Black“, 106 Punkte
- Schweiz: Marius Bear | „Boys Do Cry“, 78 Punkte
- Rumänien: WRS | „Llámame“, 65 Punkte
- Belgien: Jérémie Makiese | „Miss You“, 64 Punkte
- Armenien: Rosa Linn | „Snap“, 61 Punkte
- Finnland: The Rasmus | „Jezebel“, 38 Punkte
- Tschechische Republik: We Are Domi | „Lights Off“, 38 Punkte
- Island: Systur | „Með hækkandi sól“, 20 Punkte
- Frankreich: Alvan & Ahez | „Fulenn“, 17 Punkte
- Deutschland: Malik Harris | „Rockstars“, 6 Punkte
Die anderen Hauptdarsteller: die Fans
Fans sind die anderen Hauptfiguren beim ESC. Wir haben vor dem Grand Final mit einigen gesprochen:
An der Tramhaltestelle wollten wir aserbaidschanische Fans fotografieren. Es stellte sich dann jedoch heraus, dass es die Familie des aserbaidschanischen Sängers Nadir war – sie befanden sich gerade im Videochat mit ihm und auch wir wurden ihm per Handy gezeigt.
Hoffnungsvolle Briten in der Tram zur Halle
Allesia und Daniele trafen wir auch in der Tram. Sie sind seit 6 Jahren ESC-Fans, waren aus Catania angereist und favorisierten die Ukraine vor Italien.
From outer space (oder aus dem Vereinigten Königreich):
Großer Andrang am Einlass heute, aber trotz extrem genauer Prüfung der Tickets und Pässe oder Ausweise klappt es extrem schnell und geordnet
Beliebtes Accessoire in diesem Jahr: die norwegische Banane
Bzw. der norwegische Wolf, gerne auch zusammen mit Banane
In Skandinavien ist der ESC ein Familienevent. Der Herr in der Mitte mag lieber Großmütter als Bananen, sagt er, und drückt seine Frau!
Diese Belgier hatten sich leider etwas zu viel erhofft
Aus der armenischen Diaspora in Frankreich. Dieser Fan fuhr letztes Jahr in dem Kostüm nach Rotterdam, um auf die Absenz Armeniens wegen Berg-Karabach aufmerksam zu machen. Da hat er beschlossen, es immer als Kostüm zu nehmen – soviel zum Thema unpolitischer ESC:
Katrin aus Berlin mit dem Belgier Filip (mit Fritten). Sie können mit ihrer Farbwahl gut gemeinsam ihre beiden Länder unterstützen. Katrin sieht jedoch schwarz für das deutsche Ergebnis, Filip hofft auf einen etwas besseren Platz für Belgien (20+)
Bunt aus ganz Spanien zusammengewürfelt: sie gehören zu einer der größten und lautesten Fangruppen in diesem Jahr
Diese drei Frauen sind aus dem schwedischen Karlstad und nennen sich Hardcore-Fans. Sie sind natürlich schon die ganze Woche da:
Unschwer zu erkennen: Dreimal ESC-Teilnehmer Sheldon aus Down Under:
Original-Ukrainer treffen wir aus nachvollziehbaren Gründen nicht. Aber Meike und Ralf unterstützen die Ukraine mit ganzem Herzen, weil sie den besten Song habe.
Unter den Fans: Jānis und seine beiden Bandkollegen von Citi Zēni aus Lettland sitzen heute auf der Tribüne, da sie den Finaleinzug verpassten. Inzwischen seien sie drüber weg und stolz, überhaupt dabeigewesen zu sein. Sie standen gerade an, um etwas Vegetarisches zu bekommen:
Hinter uns der finnische Block. Als der „Friesennerz“ von Sänger Lauri fiel, gab es bei ihnen kein Halten mehr:
Wir sind angetan über viel Informationen undschöne Bilder. Das war viel gute Arbeit. Danke und liebe Grüsse
Sehr schöner und informativer Artikel. Vieles bekommt man als Fernsehzuschauer ja garnicht so mit. Und so konnte ich wenigstens nochmal in Ruhe die einzelnen Platzierungen anschauen . Schade für Harris, bei mir wäre er eher im Mittelfeld gelandet. Offenbar müssen wir künftig mehr auf Bühnenshow mit Pomp und Glamour setzen.