Heute endet in Turin der 66. Eurovision Song Contest mit dem Grand Final. 25 Finalist:innen wetteifern um die Trophäe.
Hier unser Beipackzettel zum Finale:
1) Tschechien: We Are Domi – Lights Off
Beziehungsende, Lichter aus, Neustart. „Wo bist du jetzt, wenn ich dich vermisse?“ Electronic Dance Music zu Beginn mit der klaren Botschaft: Endlich wieder Feiern! Der Saal tobt.
2) Rumänien: WRS – Llámame
Eine Hymne für Diversität und die Geschichte vom hässlichen Entlein – Latino-Power mit kurzem Männerpaartanz.
3) Portugal: MARO – Saudade, Saudade
Saudade, das portugiesische Lebensgefühl zwischen Sehnsucht und Weltschmerz – Trauerrunde für den verstorbenen Großvater. Traurig und schön!
4) Finnland: The Rasmus – Jezebel
2003 mit In the Shadows auf Platz 1 in Deutschland, versucht es die finnische Band aufs Neue. . Ihre Jezebel (Isabel) ist wie die Ehefrau Ahabs aus dem Alten Testament: verführerisch und gefährlich zugleich.
5) Schweiz: Marius Baer – Boys Do Cry
Wenn des Nachts der Wolf heult, dann nicht, weil er stark ist, sondern weil er nach Liebe schreit. Auch Jungs weinen! Leise Ballade des gelernten Mechanikers über Geschlechterrollen.
6) Frankreich: Alvan & Ahez – Fulenn
Bretonisch gesungener Elektropop entführtin die Tiefen der bretonischen Elfenwälder. Eine düstere Legende über den Tanz eines jungen Mädchens mit dem Teufel wird feministisch erzählt. Der Funke (Fulenn)könnte durchaus zünden.
7) Norwegen: Subwoolfer – Give That Wolf A Banana
The Masked Singer erobern die ESC-Bühne: Soll man den außerirdischen non-binären Wölfen die Großmutter opfern oder eine Banane anbieten? Wirkungsvoll und spaßig – doch wer singt da überhaupt live?
8) Armenien: Rosa Linn – Snap
Befreiung aus selbst gewählter Isolation nach einer Trennung – wenn das doch mit einem Fingerschnippen getan wäre! Eingängiger, radiotauglicher Pop.
9) Italien: Mahmood & Blanco – Brividi
Brividi lässt sich mit Schaudern oder Prickeln übersetzen – ausgelöst durch eine intensive, aber toxische schwule Liebesbeziehung! Einfühlsam, bewegend, aber stimmlich leider nicht immer meisterhaft. Die Sieger von San Remo genießen Favoritenstatus.
10) Spanien: Chanel – SloMo
Auf Brividi folgt der Holzhammer einer Las Vegas-Show: eine der wenigen Uptempo-Nummern im Finale. Gefährlich perfekt und eingängig, aber als Rollenmodell ungeeignet. Fanfavorit!
11) Niederlande: S 10 – De Diepte
Gefangen in einem Käfig aus Depression und Psychose sehnt sich Stien (S10) nach Befreiung. Authentisch und berührend!
12) Ukraine: Kalush Orchestra – Stefania
Mitreißende Mischung aus Folklore und Rap! Vor dem Krieg als Ode an die Mutter des rosabehelmten Rappers geschrieben, aber mit prophetischer Textzeile: „Ich werde immer meinen Weg nach Hause finden, auch wenn alle Straßen zerstört sind.“
Buchmacher-Favorit!
13) Deutschland: Malik Harris – Rockstars
Szenerie: Im Kellerstudio des 24jährigen Sängers. Handlung: Malik spielt mithilfe einer Loop-Station seinen Song ein. Inhalt: Als Kinder waren wir Rockstars ohne Furcht, mit dem Erwachsenwerden fürchten wir uns, ein Niemand zu sein. Authentisch, ehrlich, radiotauglich und leider wenig Chancen auf viele Punkte.
14) Litauen: Monika Liu – Sentimental
Auch wenn sie Litauisch singt, klingt es wie ein französisches Chanson – mit viel Eleganz, Verve und Charme vorgetragen. Sentimentale Erinnerung an eine verlorene Liebe: wie sie damals in den Dünen der Kurischen Nehrung stand und er durch dunkle Gischt auf sie zu schwamm.
15) Aserbaidschan: Nadir Rustamli – Fade To Black
Ein rothaariger Barde, der zum Finale seine Lockenpracht abschneiden ließ (so sah er bis Freitag aus), trauert stimmgewaltig um eine Beziehung. Dabei singt er viel über das Wetter. („Weathääääär“). Ein Stimmungsaufheller wäre danach hilfreich.
16) Belgien: Jérémie Makiese – Miss You
Doch es folgt weiterer Liebeskummer: Belgien schickt einen großartig singenden Profi-Torwart mit vier Tänzern. Würden diese mitsingen, wäre es die perfekte Boyband. Der Ausgang des Abends wird entscheiden: Fußball oder Gesangskarriere?
17) Griechenland: Amanda Georgiadi Tenfjord – Die Together
Eindrückliche griechische Tragödie: Gemeinsam zu sterben als dysfunktionaler Lösungsvorschlag für eine toxische Beziehung? Leicht Angst einflößend!
18) Island: Systur – Með Hækkandi Sól
Die Botschaft ist klar und schön wie die Stimmen: auf jeden dunklen Winter folgt im Frühling Sonnenschein! Wenn sie nicht singen, engagieren sich die Schwestern (Systur) Sigríður, Elísabet und Elín Eyþórsdóttir für Transmenschen – und für ihren Bruder Eyþór, den sie als Schlagzeuger mitbringen.
19) Moldau: Zdob şi Zdub and Advahov Brothers – Trenulețul
Folkloristisch-rockiger Gassenhauer, vordergründig über eine Fahrt mit dem Zug (Trenulețul) von Chișinău ins rumänische Bukarest, hintergründig über die Sehnsucht nach EU-Anbindung. Zum Mitklatschen!
20) Schweden: Cornelia Jakobs – Hold Me Closer
Das neunte Beziehungsende des Abends liefert Schweden. Liebesglück suchen wir in diesem Jahr vergeblich. Die typisch schwedische Erfolgsware liegt in den Wetten auf Platz 3.
21) Australien: Sheldon Riley – Not The Same
Queeres Selbstbewusstsein in einer 40 kg schweren Robe. Das Abnehmen der Gesichtsmaske symbolisiert den Befreiungsschlag nach erlittenen Verletzungen. Sheldons Vorbild: Conchita Wurst.
22) Großbritannien: Sam Ryder – Space Man
Stimmlich geht er ab wie ein Raumschiff, der sehr hippelige, langhaarige Brite in seinem bestickten Raumfahrer-Overall. Doch brauchen Astronauten Gitarren-Soli?
In den Wetten auf Platz 2.
23) Polen: Ochmann – River
Polnische Saudade: ein Mensch nach dem Zusammenbruch, erledigt, fertig und kraftlos, bittet Gott, seinen Körper vom Fluss hinweg tragen zu lassen – herzergreifend trauriger Gospel!
24) Serbien: Konstrakta – In Corpore Sano
Minimalistisch und rhythmisch – dazu eine starke Botschaft: Gesundheitskult als neue Religion birgt Gefahren. Zumal nicht immer in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist steckt. Artifiziell und besonders!
25) Estland: Stefan – Hope
Am Ende des Abends: Hoffnung in einer apokalyptischen Welt im Western-Style und in Sepiafarben mit einem dauergrinsenden, jungen Johnny Cash. Fanliebling!
Wer wird gewinnen
An dieser Stelle wird traditionell mit einer Einschätzung von uns gerechnet, wer am Ende auf dem Siegertreppchen stehen wird.
Doch angesichts der in den letzten Tagen vermehrten Diskussionen um einen bereits feststehenden Sieg der Ukraine haben wir diesmal darauf keine Lust.
Wir glauben tatsächlich, dass der Ausgang des Wettbewerbs noch offen ist – zumindest offener als 2009 für Alexander Rybak oder 2012 für Loreen.
Deshalb diesmal an dieser Stelle keine Prognose, sondern den Verweis auf unseren Kommentar zum Thema. (->Link)
Die Show ist in Deutschland auf verschiedenen Kanälen zu empfangen:
Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit Peter Urban als Kommentator läuft es von 21:00 Uhr bis 00:45 Uhr auf dem Sender Das Erste, ONE, Deutsche Welle sowie in der ARD Mediathek und als Stream auf eurovision.de.
Mit dem Originalton aus Turin ohne Kommentar: Auf eurovision.tv und auf Youtube.
Präsentiert wird die Show auch heute von Sängerin und Grammy-Preisträgerin Laura Pausini, dem TV-Moderator und X-Faktor Italien-Gastgeber Alessandro Cattelan sowie dem britisch-libanesischen Sänger, Komponisten und Produzenten Mika.
Viel wurde über die drei in der vergangenen Woche geschrieben, aber es ist ein klein wenig San-Remo-Feeling, das mit dem Trio beim ESC einzieht – dort plappern die Moderator:innen gerne ohne Limit – darum ist die Übertragungszeit wohl auch schon länger als üblich angesetzt. Das kann mensch mögen oder nicht, aber heute werden zwei von ihnen weit mehr als Moderation bieten. Eins kann schon mal festgehalten werden: im Modeland Italien müssen die Farben eben besonders speziell und ausgefallen sein.
Das Showprogramm
Sehr unkonventionell, aber mit extrem viel Brividi (in dem Fall Gänsehaut) beginnt das Grand Final – von der wunderschönen Piazza San Carlo im Zentrum Turins.
Und noch vor der Flaggenparade, dem Einzug der Finalist:innen, singt Laura Pausini ein Medley ihrer großen Hits – und schießt damit den klassischen Eurovisions-Kleiderwechsel in neue Dimensionen. Kräftige und ausgefallene Farben müssen es hier eben sein!
Der Intervallakt gehört natürlich den Eurovisions-Siegern Måneskin aus dem Vorjahr sowie der 74jährigen Gigliola Cinquetti, die den ESC 1964 als erste Italienerin mit Non ho l’età (per amarti) gewann. Eine schöne Idee mit großem Respekt vor der ESC-Geschichte!
Und auch Mika darf heute ein Medley seiner Hits zum Besten geben. Wie gesagt: es wird ein langer Abend werden!
Wir wünschen viel Vergnügen – Divertiti!
Ihr Lieben,
euch ebenfalls fröhliche Unterhaltung! In diesem Jahr fällt es doch schwer, sich auf einen Gewinner festzulegen. Selten konnte ich mich mit mehr Titeln als potentiellen Siegern anfreunden als in diesem Jahr. Wie wäre es denn mit Litauen oder Island? Aber besonders freuen würde ich mich über den Spaceman – Elton John war ja schon immer meins 🙂 Bussi aus Berlin
Ihr habt gut informiert. Dankeü