ESC Rotterdam – eine subjektive Annäherung

Am Vorabend des Song Contests

Heute Abend bin ich in Rotterdam eingetroffen. Zwar wehte in der Bahnhofshalle die erste ESC-Flagge und auch auf dem Weg zu meinem Hotel entdeckte ich etliche davon. Doch die Stimmung ist eine gänzlich andere als wie wir sie kennen. Ausgestorben ist die Stadt an einem Freitagabend um 20 Uhr und im Hotel bekomme ich ein Zimmerupgrade von Basic auf Luxus. Ich denke nicht, dass ich der einzige Gast bin, aber der Reaktion des Empfangs nach zumindest der erste Eurovisions-Gast. Es herrscht Begeisterung, dass endlich jemand da ist.

Im Zug dachte ich über das nach, was gewesen ist: die überteuerte Hotelbuchung, auf der wir letztes Jahr sitzengeblieben sind, der ausgefallene Contest und immer wieder darüber, wie die nächsten zwei Wochen wohl werden.
Natürlich habe ich mich ausgiebig vorbereitet und mich nicht nur mit Corona-Regeln, sondern auch mit den Songs des Jahrgangs vertraut gemacht.
Zu deren Einschätzung ein paar völlig sbjektive und unstrukturierte Gedanken ohne Anspruch auf Objektivität oder Vollständigkeit.

Nach dem Totalausfall

Wir zählen das Jahr 2 der Coronapandemie. Das vergangene Jahr 2020 startete wie üblich mit Vorentscheidungen oder internen Auswahlverfahren. Künstlerinnen und Künstler bereiteten sich auf Rotterdam vor, bis plötzlich alles umsonst gewesen schien.

Zwar diskutierten die Fans auch während des Lockdowns die vorgestellten Titel und erstellten Ranglisten, doch die Veranstalter in Rotterdam und bei der EBU schafften es nicht, sich auf die veränderte Situation einzustellen und einen Wettbewerb unter Pandemie-Bedingungen auf die Beine zu stellen.

Es wurden zum geplanten Termin Ersatzveranstaltungen ausgestrahlt: von der EBU eine Show aus Hilversum, die mit jeweils 30-sekündigen Videoschnipseln die enttäuschten Teilnehmer:innen ehren wollte und – hier mal große Anerkennung für die Entschlusskraft der ARD – aus der Elbphilharmonie ein denkwürdiger Abend mit einigen Liveauftritten sowie einer Gesamtwertung.

Doch das war beides kein Ersatz für den ausgefallenen ESC. Dass die EBU dann nicht einmal für 2021 die übliche 1. September-Regel außer Kraft setzen wollte (frühestens zum 1. September des Vorjahres dürfen Titel für den ESC veröffentlicht werden), um den leer ausgegangenen Interpret:innen von 2020 eine zweite Chance zu geben, war eine zweite Enttäuschung zumindest für die Klasse von 2020.

Deshalb war die Spannung groß, wer von diesen leer ausgegangenen jetzt nach Rotterdam zurückkehren und es nochmal versuchen würde.

Das Rotterdamer Teilnehmerfeld

Es sind 26 Acts geworden, die jetzt im zweiten Anlauf antreten dürfen. Teilweise wurden sie von ihren Rundfunkanstalten als sicher gesetzt und stellten im Laufe des Winters einen neuen Titel vor, teils mussten sie sich einer erneuten Vorentscheidung stellen.

Andere Länder wie Deutschland erkoren neue Interpretinnen oder Interpreten, auch hier teils per Akklamation, teils durch Vorentscheide.

Für die Statistikfreunde innerhalb der ESC-Community eine wahre Wonne: werden sich die Neuen besser schlagen oder jene, die schon 2020 dabei gewesen wären? Sind die 2021er-Titel besser oder schlechter als die aus dem Vorjahr?

Auf jeden Fall sind es schon mal zwei Länder weniger geworden und damit wird es ein kleinerer Contest, als wir für Rotterdam erwartet hatten. Armenien hat sich wegen des Konflikts mit Aserbaidschan um Karabach aus dem Wettbewerb zurückgezogen und Belarus wurde wegen eines als zu politisch beanstandeten Titels im Vorfeld disqualifiziert. So werden es nur 39 Titel sein, die in diesem Jahr um die Krone ringen.

Wiederholungstäter:innen

Jene 26, die auch schon 2020 an den Start gegangen wären, werden sich nach dem 22. Mai natürlich fragen, ob es sich für sie gelohnt hat oder nicht. Und ganz entscheidend ist diese Frage für jene, denen nach Wettquoten, Fanabstimmungen oder Zugriffszahlen der eingereichten Videos im vergangenen Jahr eine Gewinnchance oder eine Spitzenplatzierung zugesprochen werden kann:

Malta beispielsweise, denn Sängerin Destiny hatte schon mal den Junior-ESC gewonnen. Oder Aserbaidschan mit Sängerin Efendi, denn Aserbaidschan landet bekanntlich praktisch immer eine gute Platzierung. Efendi trumpfte mit Cleopatra im Vorjahr dick auf – doch auch wenn sie sich in diesem Jahr selbst zitiert, fällt Mata Hari doch deutlich hinter die ägyptische Pharaonin zurück.
Ganz anders Destiny aus Malta: bereits im Vorjahr mit einem starken Titel vertreten, konnte sie mehr als nur nachlegen und steht in der Gunst der Buchmacher heute vor Probenbeginn in Rotterdam ganz oben.


Ein starker Fanfavorit war 2020 der isländische Beitrag. Der nerdige Wahlberliner Daði Freyr überzeugte damals mit unkonventionellen Klamotten und unkonventioneller Choreographie im unkonventionellen Think About Things. Fans mögen ihm zwar die Treue halten, doch Islands Chancen fallen jetzt ein Jahr später mit 10 Years , fürchte ich, weit zurück.
Die Ukraine war 2020 sicher kein Kandidat auf den Sieg, stach aber mit der Formation Go_A aus der Masse heraus: traditioneller „weißer Gesang“ gepaart mit Technobeats ist ihr Markenzeichen. Mit SHUM („Lied“ Korrektur: Lärm) besingen die Ukrainer den Frühling nach einem langen Winter, die Zeit, da man wieder nach draußen gehen und sich lieben kann – ein perfektes Pandemie-Lied. Das zugehörige Video wurde in Tschernobyl gedreht.

Die Pandemie in den Songs des ESC

Im Jahr 2 der Pandemie hätten wir erwartet, dass sich das Thema Corona und die damit verbundenen gesellschaftlichen Einschnitte viel stärker in den Songs widerspiegeln würden.
Doch so richtig fündig sind wir da bisher nicht geworden.
Neben dem Titel aus der Ukraine sticht uns da bislang nur der litauische Beitrag ins Auge. The Roop bieten Elektropop gepaart mit außergewöhnlicher Choreografie. On Fire erreichte 2020 den Sieg in der Abstimmung der ARD, war also der deutsche Gewinner der Herzen.  Mit Discoteque überzeugen sie nun mit dem passendsten Titel zur gegenwärtigen Lage: „I feel it’s safe to dance alone. Let’s discoteque right at my home…“ – und wenn sie im nächtlichen Vilnius vor menschenleerer Kulisse tanzen, ist es sowohl wunderschön als auch zutiefst traurig.

Taktiken

Vielleicht weniger bei den Künstlerinnen und Künstlern, sondern vielmehr innerhalb der Fernsehanstalten stellt sich in jedem Jahr die Frage, was den perfekten und passenden Eurovisions-Beitrag ausmachen könnte: war im Vorjahr ein Stimmungs- und Partysong der Gewinner, könnte eine Ballade als Kontrast gut wirken – oder umgekehrt.
Dagegen entscheiden sich andere eher dafür, die Machart des Vorjahreserfolgs zu kopieren und auf den erfolgreichen Zug aufzuspringen. Das Patentrezept gab und gibt es dafür nicht. Dennoch sind wir selbst sehr gespannt, ob Europa in diesem Jahr des Virus lieber tanzen und abfeiern oder sich von einer traurigen und depressiv-stimmungsvollen Ballade verzaubern lassen möchte.

Antipoden in dieser Haltung sind für uns Deutschland und die Schweiz. Mit Jendrik und I Don`t Feel Hate hat sich Deutschland diesmal für überbordende Feel-Good-Stimmung trotz ernsten Themas entschieden – nein, besser: hat sich der NDR mit seinem berühmten Jury-Panel ohne Vorentscheid entschieden.

Jendrik (Deutschland) Bild: NDR

Auch das Schweizer Fernsehen verzichtete auf einen Vorentscheid, blieb aber bei seiner Wahl vom Vorjahr: Gjon’s Tears setzt auf Melancholie und Traurigkeit und erobert mit seiner Kopfstimmen-Ballade Tout l’Univers die Wettbüros und sehr viele Eurovision-Fans.

Spannung bis zuletzt

Es verwundert allerdings, dass bereits jetzt Wettquoten oder Abstimmungen der Fanclubs diskutiert werden, als ließe sich daraus eine Vorhersage ableiten. Das klappt schon in normalen Jahren nur sehr bedingt – in diesem Jahr ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Denn aufgrund der fehlenden Vorentscheide und ausgefallenen Pre-Eurovison-Partys als Live-Event existieren von vielen Songs im sonst so ergiebigen Internet diesmal deutlich mehr perfekt gestylte und getrimmte Videos anstelle von Live-Auftritten. Begierig saugten wir in der zurückliegenden Woche alle auffindbaren Liveversionen auf: vom schwedischen Mello-Gewinner Tusse, der ganz offensichtlich noch an den Folgen einer Operation an den Stimmbändern leidet oder vom Österreicher Vincent Bueno, dessen Video zu Amen uns so gar nicht erreichen konnte, der aber mit seinem Liveauftritt bei Starmania zumindest mich zum Nachdenken brachte.

Aber auch das Gegenteil kann passieren: der norwegische Beitrag Fallen Angel gefiel uns seit dem Vorentscheid durchaus gut, doch konnten wir mit TIX und der Inszenierung seines dortigen Live-Auftritts rein gar nichts anfangen. Erst das offizielle Video des Künstlers brachte uns den Zugang.

Es ist vielfältiger

Doch das ganze Spektrum des kommenden ESC ist noch viel vielfältiger als mein kurzes Streiflicht. Werden Teddybären auf der Bühne eine Rolle spielen? Was finden bloß alle an Dänemark? Gewinnt am Ende ein klassischer französischer Chanson? Oder genderfluider Indie-Rock aus Italien? Oder….?

Måneskin (Italien) Bild: Gabriele Giussani
Kroatische Teddybären mit Albina | Bild: BORNA HRŽINA

Es ist dann doch auch in der Pandemie wie immer: wir wissen vorab rein gar nichts und sind mächtig gespannt auf den Beginn der Proben in Rotterdam. Weg mit allen Überlegungen! Weg mit den Prognosen! Wir sind ausgehungert nach Show, Glamour und guter Musik!

Let the Eurovision Song Contest begin!

Eine Antwort auf „ESC Rotterdam – eine subjektive Annäherung“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen