In diesem Jahr ist alles wie immer, nur dass ich in Berlin bleiben muss. Aber das Pressezentrum hat dennoch für mich geöffnet – wenn auch nur online. Und so sitze ich startbereit am Tablet, um von den Proben und den Pressekonferenzen vom ESC 2021 zu berichten. Knapp über 250 Personen haben sich eingewählt und verfolgen das Geschehen online.
Litauen
The Roop beginnt mit Discotheque: Der erste Durchlauf erfolgt ohne Zuschalten des Streams – und so warten alle gespannt. Der erste Song dieses Jahrganges ist ein Coronasong durch und durch – denn es geht um das sichere Alleintanzen mit Abstand, auch wenn der Wahnsinn nahe ist. Im wunderbaren Friesennerz-Gelb (als Farbe der Hoffnung) wird die perfekte Choreo aus dem Video dargeboten. Und wie in jedem Jahr klappt es zunächst mit dem Ton bei der Übertragung nicht. Vaidotas Valiukevičius als Sänger überzeugt stimmlich – jeder Ton sitzt.
Slowenien
Nach dem Tempo Up Song geht es mit einer Ballade, die sich von Minute zu Minute steigert, weiter: Ana Soklič besingt in ihrem Lied Amen das Dunkle der Welt, in der es gilt das Durchhalten zu lernen, bis dann der neue Morgen anbricht. Darum gibt es auch am Anfang im Hintergrund auf der LED Leinwand eine Erdkugel zu sehen. Dazu gibt es sechsmal ein Hallelujah und zweimal ein Amen von ihr zu hören. Und folgerichtig tritt die Sängerin als Botschafterin des Optimismus natürlich ganz im weißen Hosenanzug mit Umhang (Stolpergefahr!) auf – und zeigt dabei auch etwas Schulter. Etwas unwirklich wirkt der eingespielte Gospelchor – eine Änderung der Regeln – denn ab sofort dürfen auch Backing Vocals vom Band eingespielt werden. Der unfreiwillige Verlust eines Schuhs war bei der Probe der einzige wirkliche Höhepunkt bei diesem Lied.
Russland
Empowerment aus Russland – das ist angesichts der politischen Rahmenbedingungen ungewöhnlich und gerade deswegen beeindruckend. Mit Russian Woman präsentiert die Sängerin Manizha ein Lied, in dem die Kraft der Frauen, insbesondere der alleinerziehenden, besungen wird. Fürchte dich nicht, du bist stark genug. Wie aus einer Matrjoschka entsteigt die Sängerin aus einem traditionellen Riesenkleid, um in einem modernen roten Hosenanzug zu singen: Wartest Du immer noch auf den Prinzen? Hey, Schöne, du bist 30! Tu was du willst und nicht das, was du tun sollst. Eine Hymne, die Mut macht! Und die Mischung aus fast gregorianischem Choral- und modernem Rapgesang ist einfach nur begeisternd.
Schweden
Eine weiter Hymne auf die Kraft der Solidarität und der Macht der vielen. Stehe auf, lebe und lasse es wahr werden! Lasse nicht zu, dass sie dich unterdrücken. Tousin Tusse Chiza vertritt Schweden mit dem Lied Voices. Mit acht Jahren als Flüchtling aus dem Kongo nach Schweden gekommen, lässt sich Tusse auch nicht in ein Raster der Geschlechtlichkeit zwängen, da Tusse für sich die Persönlichkeit vor dem Geschlecht sieht. Und so ist der androgyne, queere Auftritt mit gelben Fingernägeln und viel Schmuck einfach nur ein unglaublich heller Lichtschimmer in Zeiten, in denen Hass auf Minderheiten in vielen Ländern wieder mehrheitsfähig wird. Durch die Einblendung auf der LED-Wand erscheint es auch kurzzeitig so, dass eine große Gruppe auf der Bühne steht, es sind aber nur fünf. Der Kampf geht weiter!
Australien
Montaigne aus Australien ist aus Pandemiegründen nicht vor Ort. Ihr Song Technicolor wurde vorab unter Beaufsichtigung der EBU aufgezeichnet und die Delegation konnte einen der drei aufgezeichneten Beiträge auswählen. Wenn wir zusammenstehen, können wir alles erreichen. Die Fackel der Botschaft des schwedischen Beitrages wird weiter getragen. Hauptbotschaft: We Can Shine Techni-Technicolour. Trotz Ankündigung gab es nur kurz Standbilder zu sehen.
Nordmazedonien
Am 2. Mai outete sich der nordmazedonische Sänger Vasil als schwul – immer noch ein großer Schritt in vielen Balkanländern, der für ihn auch einen Knick in der Karriere bedeuten könnte. So bekommt der Inhalt seiner Musicalballade Here I Stand , die ein wenig an den König den Löwen erinnert, eine neue Bedeutung. Hier stehe ich nun ohne Schutz und mein Herz liegt in deiner Hand. Die Inszenierung ist ein Aufwärmen von Conchita-Wurst-Elementen, die mit viel Gold als Farbe arbeiten. Doch der aufgerissene Smoking, der einen Silberplattenpanzer offenbart und Vasil erstrahlen lässt, ist dann selbst für mich als Geste etwas zu melodramatisch geraten.
Irland
Lesley Roy vertritt die Republik Irland mit dem Song Maps. Wegrennen ist einfacher als zu bleiben. Meine Seele ist die Karte, mein Herz ist der Kompass, ich bin die Straße, es gibt nur einen Weg zu gehen und dieser Weg ist der nach Hause. Ein wenig erinnert der Text an die verlorene Tochter, die nach vielen Irrungen und Wirrungen nach Hause kommt. Obwohl das Lied eigentlich eingängig ist und Laune macht, schmeckt dieser konservative Beigeschmack schal nach. Die Realität der Sängerin sieht zudem etwas anders aus: Wegen ihrer US-amerikanischen Frau pendelt sie zwischen New York und Irland hin und her. Doch die erste Probe ist ein einziges Debakel, die Stimme jagt der Melodie hinterher, Einsätze werden verpasst und man fühlt sich gehetzt und leidet mit. Das kann das originelle Bühnenbild mit witzigen Passepartout Einblendungen, die leider von der Sängerin nicht immer richtig getroffen werden, und einem überdimensionialen Daumenkino leider auch nicht mehr retten. Lesley Roy tritt typisch irisch (?) in einem grünen Hosenanzug und barfuß auf.
Toll geschrieben, besonders wichtig ist, dass du den zunehmenden Hass und die Ausgrenzung von Minderheiten thematisierst. Weiter so! Danke! LG
Ich werde es wohl nie verstehen: Auf welcher Weltkarte liegt Israel in Europa? Und nun kommt auch noch Australien hinzu. …..
Na egal, Hauptsache die Musik ist gut.
Danke für diesen Link
Ganz liebe Grüße
Gü
Es handelt sich ja auch nicht um den European Song Contest, sondern den Eurovision Song Contest. Denn jede Rundfunkanstalt, die Mitglied in der EBU (European Broadcasting Union) ist, darf am Wettbewerb teilnehmen. Und da Rundfunkanstalten aus Israel und Australien Mitglied in der EBU sind, dürfen auch diese beiden Staaten dabei sein.
Danke, toll geschrieben! Und die Freude auf den ESC wächst, trotz der Einschränkungen!