Zwischen Corona und Krieg: der Eurovision Song Contest 2022

Der 66. Eurovision Song Contest (ESC) wird am heutigen Sonntag in Turin offiziell eröffnet. Statt einem roten Teppich wird es ein Turquois Carpet sein, auf dem die Delegationen zum Empfang in den unter Weltkulturerbe stehenden Königspalast des Hauses Savoyen Reggia di Venaria Reale schreiten werden.

In zwei Halbfinalshows am Dienstag und Donnerstag sowie dem Finale am Samstag, dem 14.5., kämpfen dann 40 Länder um die Trophäe.

Vergangenes Jahr in Rotterdam gelang der Glam-Rockband Måneskin nach 1965 und 1991 der dritte Sieg für Italien mit dem Titel Zitti E Buoni. Sie brachten der größten Musik-Show der Welt ein frisches Image und – seit vielen Jahren mal wieder – weltweite Popularität. Måneskin waren mit Top-10-Charterfolgen in Deutschland, Großbritannien und in den USA vertreten.

Der Austragungsort: Turin

Der Song Contest erfreut sich plötzlich wieder großer Popularität in Italien: 17 Städte haben sich um die Austragung des diesjährigen Wettbewerbs beworben. Den Zuschlag erhielt die piemontesische Hauptstadt Turin. Die Stadt Turin und der italienische Sender RAI haben sich mit der Austragung finanziell stark engagiert und das einst Eurovisions-müde Italien widmet dem Event große Beachtung.

Dazu gehören die übliche Beflaggung und Sponsorenwerbung in der ganzen Stadt, wobei das Styling des diesjährigen Logos „The Sound of Beauty“ sich als wenig ins Auge stechend erweist. Die großen Werbeflächen etwa des Sponsors Lavazza fallen da deutlich mehr ins Auge. Und eine Einkaufsstraße ist mit den Flaggen der teilnehmenden Länder geschmückt – nice!

Die Via San Secondo in Turin | Foto: Marc Schulte

Aber auch Turins äußerst sehenswerte Museen wie das Museum Egizio (die größte Sammlung altägyptischer Artefakte nach Kairo) oder das Nationale Filmmuseum haben ihre Öffnungszeiten für die Finalwoche ausgedehnt. Und im Museum Madama sind (laut Werbung – wir haben sie noch nicht angesehen) die Diamant-Fahrräder ausgestellt, auf denen Mahmood und Blanco durch ihr Video sausen. Unter dem Motto „Kunst, die ein Prickeln erzeugt“ wirbt Madama mit zwei weiteren Museen mit dem Song Contest.

Kunst, die ein Prickeln erzeugt. Werbepostkarte dreier Turiner Museen | Foto: EuroVisionen

Leider bilden exorbitante Hotel- sowie Ticketpreise für den ESC die Kehrseite der Medaille.

Denn im Vorfeld fieberten tausende Fans einem – wie alle hofften – Nach-Corona-Event entgegen. Seit gestern ist in einem der großen Parks der Stadt ein Eurovision-Village geöffnet. Dort gibt es täglich kostenlose Konzerte und Public Screening der Shows sowie ein breites Rahmenprogramm mit Thementagen wie „Krieg und Frieden“, „LGBT+“ oder „Europa“.

Eurovision-Village | Foto: EuroVisionen

Und statt eines einzigen Clubs für tanz- und feierwillige Fans sollen zehn verschiedene Locations vom Dance-Club über Restaurants und Cafés bis zu einem Einkaufszentrum und der Lavazza-Zentrale als Treffpunkt für Delegationen und Fans dienen. Ob das allerdings als Konzept tragen wird, wird sich erst noch beweisen müssen.
Deshalb versucht ein privater Club, die Lücke zu schließen: Im Stil der bisher üblichen Euroclubs wird dorthin in der kommenden Woche zum Feiern eingeladen. (www.euroclub.tv)

Der ESC im Wandel: Kommerz und Downsizing

Der fehlende zentrale Euroclub ist nur eine der Überraschungen, die die EBU für die Fans diesmal bereithält. Wieder ist nur eine begrenzte Zahl von 500 Akkreditierungen für das Pressezentrum vor Ort vergeben worden (das diesmal noch dazu erst am vergangenen Mittwoch zu Beginn der zweiten Probenrunde öffnete), weitere 1000 Akkreditierungen gab es wie im Vorjahr in Rotterdam für das Online-Pressezentrum. Doch selbst dafür waren die Hürden diesmal höher gebaut: viele vermuten, dass ganz offensichtlich die Fanpresse gewaltig zurückgedrängt werden soll. Dies führte zu unschönen Bildern. Ausgerechnet bei den Meet&Greet genannten und einst mit Blick auf anwesende Fans ins Leben gerufenen ersten Auftritten und Interviews der Teilnehmer*innen befand sich außer den Hosts niemand im Saal. Und bei den Pressekonferenzen seit Mittwoch herrschte ebenfalls gähnende Leere.

Gähnende Leere bei den Pressekonferenzen | Foto: EuroVisionen

Gleichzeitig baut die EBU ihren eigenen Websites aus, möchte Content lieber selbst produzieren statt es der (Fan)Presse zu überlassen und vergibt einen exklusiven Vertrag zur Präsentation der ersten Proben in der Halle ausgerechnet an den chinesischen Sponsor TikTok.
Auf Nachfrage erfuhren wir von der EBU, dass man auch nach Corona „denen, die nicht selbst anreisen können, die Gelegenheit geben möchte, ein Online-Pressezentrum zu nutzen“.

Die Kommerzialisierung und das Downsizing der größten Musikshow der Welt schreitet zweifelsohne voran!

Festival im Schatten des Krieges

Überschattet wird der 66. ESC vom Angriffskrieg gegen die Ukraine. Feiern im Zeichen von Krieg ist dem Festival nicht fremd: jahrelange Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, Raketenangriffe auf Israel während des Contests 2019 oder die Annexion der Krim 2014 belasteten den Wettbewerb. Dazu setzten Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Mitgliedsländern die EBU (European Broadcasting Union) wiederholt unter Druck. Bisher verschanzte sich die EBU immer hinter der Phrase, der ESC sei ein „unpolitischer“ Wettbewerb im Geist der Völkerverständigung.
Selbst am Tag des Überfalls Russlands auf die Ukraine wurde dies gebetsmühlenartig wiederholt: es gäbe keinen Grund, Russland vom ESC auszuschließen. Doch nicht zuletzt der Druck skandinavischer Sender auf die EBU bewirkten bereits einen Tag später einen Bann Russlands vom diesjährigen Wettbewerb.

Kalush Orchestra | Foto: EBU/MAXIM FESENKO

Die Ukraine selbst nimmt seit 2003 mit zwei Siegen und wiederholten Top 5-Platzierungen am ESC teil. Während es erst so aussah, als könnte das ukrainische Kalush Orchestra ihren Titel Stefania hier in Turin bestenfalls per Videokonserve einspielen, so haben die Sänger der Band im April eine Sondergenehmigung zur Befreiung vom Militärdienst bekommen und sind seitdem als musikalische Botschafter für eine freie Ukraine in Europa unterwegs. Dass die für ihre häufige Treffsicherheit bekannten Buchmacher die Ukraine seit Beginn des Krieges als chancenreichste Anwärter auf den Sieg in Turin führen, stößt manchem Fan, der alleine die Musik ohne politische Einflüsse beurteilt sehen möchte, bitter auf, doch dass wir in einer politischen Welt leben und noch dazu der ukrainische Song – ein mitreißender Mix aus Folkloreklängen und hartem Rap – wohl auch ohne Solidaritätsbonus gute Chancen auf einen der vorderen Plätze gehabt hätte, wird dabei übersehen. Doch der ESC ist bekannt für Überraschungen und die Konkurrenz ist groß und vielfältig.

Der ESC wird vielfältiger

Der Sieg der italienischen Glam-Rocker im Vorjahr hat nicht etwa eine inflationäre Beteiligung rockiger Titel bewirkt, sondern scheint die musikalische Palette des ESC verbreitert zu haben: von folkloristischen Klängen und der klassischen Ballade ist über radiotauglichen Alltags-Pop bis zu Rock, EDM und Rap alles vertreten. Im Vergleich zu den zurückliegenden Jahren sind wieder mehr Titel in der jeweiligen Landessprache vertreten – zum Beispiel mit dem Bretonischen für Frankreich.

Alvan & Ahez für die Bretagne | Foto: EBU / Corinne Cummings

Spannend ist auch der Einfluss der beiden Corona-Jahre auf die Musik. Explizit setzen sich zwei Songs mit der Pandemie auseinander: Konstrakta aus Serbien mit ihrem avantgardistisch-minimalistischen Titel In Corpore Sana und Sängerin Vladana aus Montenegro, die mit Breathe den COVID-Tod ihrer Mutter verarbeitet.
Doch auch die überdurchschnittlich große Zahl von Beiträgen, die entweder toxische, dysfunktionale oder auseinandergebrochene Beziehungen zum Thema haben, kann ebenso als direkte Folge der Lockdown-Jahre gesehen werden wie die Auseinandersetzung mit psychischen Störungen.
Doch neben ernsten Themen gibt es extraterrestrische Wölfe aus Norwegen, einen stimmgewaltigen Spaceman aus Großbritannien sowie die alljährlich üblichen J.Lo-Wannabes.

Für Deutschland: Malik Harris

Für Deutschland startet Malik Harris mit Rockstars. „Radiotauglichkeit“ war in diesem Jahr vom NDR als Hauptkriterium für die an einer Vorentscheidung Anfang März präsentierten Titel ausgegeben worden. Ob dies jedoch tatsächlich ein geschickt gewähltes Kriterium für einen ESC-Erfolg ist, wo es doch darauf ankommt, sich mit einem einzigen Auftritt ins Gedächtnis des Publikums einzubrennen, bleibt abzuwarten.
In seiner gestrigen Probe präsentierte sich der deutsche Teilnehmer mit einem Staging von Marvin Dietmann, der Conchita Wursts Auftritt 2014 in Kopenhagen ebenso inszenierte wie Levinas Perfect Live 2017. Da Malik hier auf der Bühne des Pala Olimpico unter keinen Umständen auf seine Instrumente verzichten wollte, wurde ihm eine, wie wir finden stimmige Geschichte inszeniert: die Bühne stellt ein heimisches Wohnzimmer-Studio dar, wie wir es gerade in den beiden letzten Jahren bei vielen gestreamten Konzerten erleben durften. Teppiche liegen auf dem Boden und die Beleuchtung wird intim gehalten. Malik beginnt am Synthesizer, den er mit einem Knopfdruck auf eine Loop-Station am Laufen zu halten vorgibt, wechselt dann zu Drumpads und nach einer vermeintlichen Aktivierung des Verstärkers greift er zur Gitarre. Von da an allerdings bleibt die Konzentration ganz bei ihm und seinem sicheren, konzentrierten und ausdrucksstarken Auftritt.

https://youtu.be/H6RZwvo79qk
Maliks Probe


Natürlich gehen die Meinungen hier in Turin sowie im Netz weit auseinander, aber uns hat es positiv überrascht. Auf ein großartiges Ergebnis für Deutschland wettet leider niemand.

6 Antworten auf „Zwischen Corona und Krieg: der Eurovision Song Contest 2022“

  1. Ihr Lieben. Wie habe ich auf Euren erstem Bericht gehofft und gewartet.

    Wie immer grandios auf den Punkt. Informativ und obwohl der Text lang ist liest er sich super schnell uns flüssig.

    DANKE !!! Freue mich auf alle weiteren.

    Glaubt ihr das der Trend mit den Medien weiter anhalten wird und welche Auswirkungen könnte dies haben?

    Habe das mit den „leeren Stühlen“ bei der ein oder anderen Übertragung bei Fanmedien mit Erschrecken gesehen. Wie erleben das die Künstler und was machen sie wenn keiner da ist ?

    Wird denn vor Ort offen darüber gesprochen was passiert 2023 sollte die Ukraine mit dem wirklich coolen Song gewinnen? Wo könnte er statt finden?

    Danke euch wie immer.
    Liebe Grüße

    1. Da kann ich mich nur anschließen, ein toller Text. Gespickt mit Informationen und Zusammenhängen, so dass ich mich gut informiert fühle, obwohl ich die Enrwicklungen rund um den ESC in den letzten Jahren nicht so eng verfolgt habe.
      Ich freue mich auf die nächsten Texte, schöne Grüße aus Berlin.

    2. Danke Michael….Sooo viele Fragen… 😉
      Also durch die online eingehenden Fragen passierte natürlich trotzdem genug bei den Pressekonferenzen, aber den Künstler*innen wird die einmalige Erfahrung genommen, mal so richtig im Mittelpunkt zu stehen. Das verlagert sich jetzt wohl eher auf die Pre-Konzerte.
      Falls die Ukraine gewinnt, hoffen sie, es selbst in „einer wiederaufgebauten Ukraine“ – so in der PK – ausrichten zu können. Ansonsten hat sich die BBC bereits angeboten…und der NDR hatte es ja auch schon mal zugesagt. Da wissen wir nicht, ob das aktuell ist.
      Alles weitere wird sich erst im Nachhinein richtig einschätzen lassen, fürchte ich.
      Danke fürs Lesen und den Kommentar!

  2. Vielen Dank für diesen Überblick. Genau die Detailmenge die mich interessiert, ohne über jeden Probe einzeln zu berichten (was völlig legitim ist und auch Interessierte hat, aber eben nicht mich), dabei ausgewogen und nicht auf Krawall und Drama angelegt wie anderswo.

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