Der dritte Tag in Folge liegen die Temperaturen in Berlin über 25 Grad Celsius und in Rotterdam geht die erste Probenrunde zu Ende. Heute geht es mit der Startnummer 10 des zweiten Semifinales los.
Georgien
Liebe ist allgegenwärtig (Du bist überall wo ich bin / Du bist bei allem dabei, was ich tue). In seiner Liebesballade You besingt Tornike Kipiani Elemente der Natur (Sonne, Wind, Ozean und Gebirge), die in ihrer Schönheit für seine Liebe stehen.
Das Setting ist unglaublich minimalistisch gehalten. Tornike trägt lediglich ein weißes Hemd und eine schwarze Jeans. Zudem werden kurzzeitig zentrale Textzeilen auf sein Hemd und die Leinwand projiziert. Unweigerlich kommt mir dabei das Bild der Schlussszene eines Films in den Sinn: ein Überraschungsauftritt in der Bar um die Ecke; der einsame Cowboy gesteht endlich seiner Auserwählten seine Liebe, schüchtern, unsicher, zurückhaltend, aber mit einer unglaublich schönen Stimme. Da kann es nur ein Happy End geben.
Eine kleine Randnotiz: Tornike hasst es entweder, morgens um diese Zeit zu proben oder er hielt die Probe für unnötig oder etwas war ihm heute über die Leber gelaufen. Er nahm die Probe auf die leichte Schulter und machte musikalische Faxen, wechselte nach Belieben zwischen Bass und Kopfstimme und zeigte sich nicht gerade hochmotiviert – eine ungewohnt erfrischende Unterhaltung am Morgen für uns.
Albanien
Nach der Liebe kommt im Programm die tiefe Verzweiflung. Anxhela Persiteri singt in Karma von einer Schuld, die sie auf sich geladen hat. Gott wird mir nicht vergeben. Siebenmal stößt sie diese Textzeile aus. Ihren Hochmut von früher bereut sie nun bitter.
Die wenigsten aber kennen den auf albanisch vorgetragenen Text. Das ist gut so. Denn das Geschehen auf der Bühne erzählt irgendwie eine andere Geschichte. Zwar zeigen explodierende Staubwolken und die typisch balkanesken Weisen eine gewisse Schwermütigkeit. Doch anders als im Text wird die Sängerin als strahlende silberne Hoffnung herausgestellt. Vielleicht handelt es sich doch eher um eine Katharsis, die wir hier erleben sollen. Stimmlich heute ist die Sängerin noch nicht top. Aber zumindest Ist das Lied für alle Fans der Balkanpop- und Schrei-Balladen ein Höhepunkt.
Das Staging insgesamt verwundert. Warum wird die Sängerin im Fransen-Glitzer-Kostüm präsentiert? Warum steht sie alleine auf der Bühne wie eine Pop-Diva? Das tut der Ballade nicht gut.
Portugal
Wie sich ein Song passender und viel besser auf die Bühne bringen lässt, zeigt anschließend Portugal. Mit The Black Mamba und ihrem Lied Love Is On My Side geht es in den verrauchten Jazz-Keller. Am Ende eines langen Abends hört man einem ruhigen Lied zu. Der Sänger Pedro Taborda, unverkennbar mit dem weißen Hut und der schwarzen Fliege, erzählt seine Geschichte. Mit 16 Jahren hat er das Zuhause verlassen und sich auf den Weg gemacht, um vielleicht auch eine Queen zu werden. Und jetzt ist er hier – im Jazzkeller – und weiß, dass die Liebe auf seiner Seite ist. Wenn vielleicht auch nicht an diesem Abend.
Traurig-schön! Aber die Hoffnung wird siegen; aus Schwarz-Weiß wird Blau-Schwarz-Weiß und schließlich Golden-Schwarz. Irgendwie passend zur Pandemielage!
Bulgarien
Weh- und schwermütig geht es weiter. Growing Up Is Getting Old – Aufwachsen bedeutet alt werden! Das ist zwar richtig, aber warum will uns die 24jährige VICTORIA das mitteilen? Ist es die Einsamkeit der Jugend? Anscheinend hat sie sich eingekapselt, isoliert und fühlt, dass alles stehen bleibt, während lediglich die Lebenszeit verrinnt. Ihre Ängste und Dämonen lähmen sie. Nach Rumänien ist es die zweite Billie-Eilish-Reminiszenz in diesem Jahr.
Die Inszenierung passt perfekt zum Lied: Eine Eisscholle im Meer, VICTORIA im Schlafanzug alleine und verloren darauf. Und der Sand der Lebenszeit rieselt herab. Ein schweres Seufzen und tiefe Traurigkeit umfasst uns, aber was sollen wir anderes tun als Aufstehen und Weitermachen? Bei den sonnigen Temperaturen heute in Berlin will ich endlich mal was Aufbauendes! Etwas, was mich positiv stimmen lässt!
Finnland
Blind Channel kann mir die gewünschte positive Stimmung leider nicht anbieten, denn mit ihnen geht es auf die dunkle Seite: Dark Side. Und der Text ist heftig, wie sich das für Heavy Metal und Bad-Guys-Wannabes gehört: Zeige deine Mittelfinger. Und später: Ich lebe auf der dunklen Seite wie der 27er Club – Kopfschuss – Wir wollen nicht erwachsen werden.
Ein guter Freund von uns, enthusiastischer und eher klassisch ausgerichteter ESC-Fan, war von Anfang an begeistert von diesem Lied. Begründung: Das Lied gibt so richtig die Stimmung wieder, die jetzt in der Coronazeit vorhanden ist. So viel ist einfach nur furchtbar, da will man auch mal so richtig abkotzen. Und ja, genau das kann man mit dem finnischen Beitrag sehr gut. Also Reich der Freaks – alle Getränke gehen auf mich. Und was die 23 bis 27jährigen Bandmitglieder auf der ESC-Bühne darbieten ist richtig passend. Ich wünsche der Band bald wieder richtige Konzert vor großem Publikum. Stinkefinger hoch.
Lettland
Eine Königin der Nacht beschert uns Samanta Tina mit ihrem Song The Moon Is Rising. Voll Stolz und Selbstachtung besingt die Lettin, wo es lang geht. Mit ihrer schreiend-pressenden Stimme überlagert sie einen nicht wirklich gefälligen Hip-Hop-Beat. Doch der Rhythmus brennt sich schnell ein.
Grün gekleidet stehen vier Frauen auf der Bühne, die Tänzerinnen oder eher „Steherinnen“ erwecken den Eindruck einer Elfen- oder Koboldinnengruppe. Das Königinnensymbol wird gekonnt mit den Händen gebildet. Doch das im Video gezeigte Plädoyer für Diversität bleibt versteckt.
Und wer sich fragt, was „Nammacais“ bedeuten mag, dem sei es hier verraten: Not My Case!
Schweiz
Gjon‘s Tears (Gjon Muharremaj) nimmt sich in seinem Lied das ganze Universum vor: Tout l‘Univers. Die Schönheit der Natur und des Universums steht auf der einen Seite. Auf der anderen Seite eine Traurigkeit, die einen aufgrund eines Schicksalschlags plötzlich umfangen kann. Sei es der plötzliche Tod eines Freundes, sei es das Ende einer Liebe, sei es das Alleinsein in Pandemiezeiten, dieses Lied kann vieldeutig gelesen werden.
Dieses Gefühl wird durch die perfekte Stimme unterstrichen. Doch der Aufbau des Bühnenbildes als sich verändernde Tetrislandschaft passt nicht zum Charakter des Chansons. Und ich kann nicht verstehen, wie man diesen jungen Mann in eine clownesk wirkende Garderobe zwängen kann – es scheint nur die rote Nase zu fehlen. Völlig hektische Kamerafahrten, zu viele übertriebene Gesten und Schritte und Drehungen ohne Ende: Ruhe und Behutsamkeit hätten diesem Song gut getan.
Dass sich das auch ganz anders erleben lässt, beweist gerade Martin, der in Rotterdam völlig gefesselt vom Auftritt war, obwohl ihm der Song bisher nicht so gut gefiel. Er findet, dass es genau die Kontraste der Inszenierung sind, die dem Chanson Spannung und Leben geben und eben genauso artifiziell sind wie das ganze Lied….so kann es gehen im großen Universum.
Dänemark
Endlich wieder tanzen! Diese Botschaft klingt in unseren Zeiten alles andere als banal. Das Duo Fyr & Flamme, bestehend aus Jesper Groth und Laurits Emanuel, wollen gemeinsam üben: Øve Os På Hinanden. Und zwar das Tanzen, was sonst? Du er kvinden, jeg er manden – du bist die Frau, ich der Mann – nur heteronormativ soll sich hier erprobt werden.
Eine Sache weiß ich sicher: Nüchtern würde ich zu diesem Song nicht tanzen. Die Schubladen der 80er-Jahre-Schlager können geschlossen bleiben, denn sowas haben wir doch damals auch nicht gern gehört.
Und je häufiger ich die Proben sehe, beschleicht mich zudem die Frage: handelt es sich wirklich um Satire? – Die zwei auf ihren kreisrunden Podesten, dazu ein lila Jackett und ein zu tiefes Unterhemd mit Blick auf ein Tattoo – so soll gute Laune 2021 aussehen? Ist das hyggelig?!
Anscheinend – immerhin katapultierten die Dän:innen den Song auf Platz 1 ihrer Charts. Und auch viele ESC Fans sind begeistert. Als echte Jugendliche der 80er halten wir uns da eher zurück.