Heute und morgen werden die Beiträge des zweiten Semifinales geprobt. Donnerstag in einer Woche wird entschieden, welche 10 der 17 Beiträge ins Finale am Samstag, dem 22. Mai 2021, einziehen werden. In den ersten Proben heute dürfen wir raten, welche Favoriten überleben und welche abstürzen…
San Marino
Wir sind wie Feuer und Benzin, komm und lass es uns entzünden, wir sind auf Adrenalin, du bist mein Adrenalina. Senhit setzt mit dem Lied Adrenalina ein klares Zeichen: Es wird Zeit endlich mal wieder richtig heftig zu feiern. Unterstützung bekommt die Sängerin von einem Rapper, der in der heutigen Probe (noch) nicht der angekündigte US-Rapper Flo Rida war.
Und der Auftakt an diesem dritten Probentag ist gelungen: Die sich drehende Raute als Bühne birgt zwar eine gewisse Unfallgefahr, bringt an und für sich die Dynamik des Liedes aber gut zur Geltung. Lediglich Senhit selbst wirkt bisweilen etwas unbeholfen und unsicher, wenn sie von ihren Tänzer:innen gehoben und bewegt wird.
Dass Kostümdesigner:innen ihren Ideen freien Lauf gelassen haben, ist unverkennbar: Wann sonst tragen Menschen weiße Anzüge mit 3/4 Hosen, weiße Hauben, weiße Socken mit roten Sternen und roten Stiefeln?
Senhit selbst verbirgt sich zu Beginn ihres Songs hinter einem orthodox anmutenden Ikonenkreuz mit einem Madonnenbild und absolviert dann den Auftritt in einem weit ausgeschnittenen schwarzen Hosenanzug.
Im Ansatz alles ganz vielversprechend, jedoch an Schwung und Dynamik fehlt es noch, zumal der heute auf der Bühne stehende Rapper sich nicht wirklich zugehörig zu fühlen scheint und beim dritten Probendurchlauf befürchten lässt, er könnte versehentlich von einer Leuchtflamme der Pyrotechnik angesengt werden – Adrenalin pur!
Estland
Nach diesem fröhlichen, stimmungsvollen Auftakt wird es traurig: Uku Suviste singt in The Lucky One von einer Liebe, die eigentlich genau die richtige ist. Doch dann muss er erkennen, dass er gehen sollte. Ich brauche keine Kristallkugel, um zu erkennen, dass du mich zerbrichst, wenn ich bleibe.
Weißes Hemd, geöffnete Fliege, und in der Startposition kniend – die schwarze Hose kurz vor dem Zerplatzen gespannt, setzt der estnische Sänger (38) auch sein Aussehen mehr als bewusst ein. Er wirkt ein wenig wie ein Mann, der frisch aus dem Bett gekrochen ist, um rechtzeitig bei der Wahl zu Mr. Eurovision für sich selbst abstimmen zu können.
Aber wenn er (bühnenvisuell) in tiefen Wassern zu ertrinken droht oder per Berührung Wasser in Blut verwandelt, traut man ihm doch auch alles zu.
Stimmlich in Ordnung – und vor allem kräftig vom Backing-Band unterstützt: das Lied plätschert dennoch einfach nur seicht dahin. Und warum summe ich es dann schon wieder mit?
Tschechien
Etwas hoffnungsvoller in Sachen Liebe ist Benny Cristo mit seinem Lied Omaga (Oh my god) – der Sänger wirbt mit viel Fröhlichkeit um die Gunst seiner Auserwählten. Zwar hat er Fehler gemacht, aber es wäre so gut und schön, wenn sie zurückkäme. Und auch der Coronabezug fehlt nicht: Du warst so lange zu Hause, ich war so lange zu Hause, wir beide müssen fühlen, dass Liebe nichts Falsches ist. Und es sei völlig egal, wenn sie in der Zeit jetzt etwas zugenommen habe.
In einer goldenen Glitzerjacke mit blondierten Kurzhaarschnitt begibt sich Benny Cristo mit zwei seiner Kumpels zu der Frau, die er beeindrucken will. Eine frische und moderne, unaufdringliche Choreo. Denn, wenn er wie selbstverständlich hüpft und sich vor sich hin freut, glaubt man ihm sofort, wenn er singt: Omaga, You‘re so beautiful.
Griechenland
Endlich wieder tanzen! Gerade Jugendliche sehnen sich danach, dass Clubs wieder aufmachen und Parties wieder möglich sind. Und so passt es auch, dass die 18jährige griechisch-niederländische Sängerin Stefania darüber singt, dass der nächste Tanz auf keinen Fall der letzte Tanz sein darf – Last Dance. Gut, dass es in der Aussprache der Sängerin auch eher nach Let’s Dance klingt
Doch wurde bei der Musikwahl tief in die 90er Jahre Schublade gegriffen und man hat das Gefühl ein Revival von Flashdance zu erleben…
Zudem stockt einem bei der Probe der Atem ob des lila glitzernden eng anliegenden Ganzkörperanzugs mit Dreiecksaussparung am Bauch. Doch es kommt noch besser, als die Tänzer Stefania in zwei Teile zerteilen und ihr Oberkörper getrennt vom Unterkörper weitertanzt. Es ist ein Knaller, die ungewöhnliche Performance mit Greenbox-Elementen machen den Song überraschend lebendig und lassen Sergej Lazarev (Russland 2016) vermutlich vor Neid erblassen: Tänzer, die zunächst nur als Hosen und Anzüge tanzen und erst zum Schluss ihr Gesicht zeigen und eine Stefania, die unsichtbare Treppen hinauf schreitet. Und Tanzen wollen wir alle bald wieder.
Österreich
Nach dem estnischen Beziehungsende kommt nun die österreichische Variante: Vincent Bueno singt Amen. Nachdem „sie“ schwarz gekleidet die Nachbarschaft verlassen hat, ist die Beziehung zu Ende und er fragt sie insgesamt zwölfmal (davon sechsmal mit einem zweifach vorgesetzten Amen): Sag mir, ist es wirklich das, was du wolltest?
Messiasgleich steht der Sänger, eingerahmt von Scheinwerferstrahlen, in einem schwarzen Anzug mit glitzerndem Gehrock auf einem gesonderten Catwalk. Zugegeben: eine großartige Möglichkeit, die Bühne für einen einzelnen Solo-Sänger zu reduzieren. Aber so wirklich erschließt sich die pseudoreligiöse Überhöhung des Songs durch diesen Lichterdom nicht.
Und ich stelle fest: 3 Minuten können lang sein. Trauer und Bestürzung pur ohne einen Hauch an Selbstkritik schlägt mir entgegen.
Polen
Es gibt sie (leider) noch – die Männer, die hundertprozentig wissen, wo es lang geht: Baby mach‘ dich bereit für die Reise deines Lebens so die Botschaft des 39jährigen polnischen Sängers, Fernsehmoderators und ehemaligen Wrestlers Rafał. Der Song The Ride beschreibt, wie unfassbar toll es sein wird, sich schon heute Nacht auf das Abenteuer Rafał ohne Hinterfragen einzulassen und ihm bedingungslos zu folgen.
Und so überrascht das Staging auch nicht: Megacoolness ausstrahlend steht der schwarz gekleidete Sänger zunächst mit Sonnenbrille da und wartet auf seine vermeintlichen Eroberungen. Zur Unterstützung bringt er weiß gekleidete Taschenlampen schwenkende Tänzer mit. Wobei das Tanzen dann eher ein Laufen Richtung Satelittenbühne ist — es soll bestimmt nicht unmännlich wirken!
Musikalisch wird zudem nur unsauber gesungene Einheitsware aus Modern-Talking-Zeiten angeboten – ein erstes tiefes Tal des zweiten Semifinales ist erreicht. Aber wenigstens bin ich mir sicher, dass niemand sich entschließt, die angebotene Reise anzutreten.
Moldawien
Zu Beginn sitzt Natalia Gordienkeo auf ihrem aus Männern gebildeten Thron und nach einigen rhythmischen eindeutigen Bewegungen erhebt sie sich und fängt ihre Aerobicnummer an, scheint aber nicht wirklich motiviert und begeistert – denn schließlich fehlt ja der SUGAR, der für alles und jedes stehen kann.
Die Männer – auch hier wieder mit Sonnenbrillen -, die unter ihren Jacken offensiv ihre blanke Haut darbieten, scheinen die Sängerin eher zu langweilen. Kein Wunder, dass die Tänzer erschöpft zu Boden fallen und die Sängerin in ihrem silbernen Kleidchen scheinbar vor allem eins denkt: Das Lied ist (endlich) vorbei.
Abgesehen davon, dass das Stereotyp des männerverschlingendes Vamps nun alles andere als modern erscheint, ist auch der Song gelinde gesagt, altbacken. Und wenn dann noch die Backing-Vocals, die seit diesem Jahr von Band kommen dürfen, die musikalische Hauptlast tragen, kann ich nur verhalten die Schultern zucken (und ein Stück Schokolade essen).
Island
Alleine es viermal zu schaffen, die Textzeile I don’t wanna know what would have happened if I never had had your love in rasender Geschwindigkeit zu singen, zollt mir Respekt ab.
In dem Song 10 Years wird die zehnjährige Partnerschaft des Sängers Daði Freyr Pétursson mit seiner Frau Árný Fjóla Ásmundsdóttir besungen. Das ist sympathisch und schön, aber dennoch will das Lied von Daði & Gagnamagnið auf der großen Bühne nicht wirklich zünden.
Im letzten Jahr noch als nerdige Alternativgruppe mit selbstgebastelten Instrumenten gefeiert, ist dieses Jahr der Song nicht wirklich catchy und auch die “witzigen“ Bewegungen der Choreographie wirken erzwungen und nicht mehr ursprünglich. Das eingespielte Orchester zu Anfang, der Kinderchor in der Mitte, die mit Applikationen aufgepeppten grünen Oberteile und die tragbaren runden Hightechsynthesizer sind mir eben doch zu viel, auch wenn die Sänger:innen als kleine grüne Astronauten-Menschchen im Background-Content eine charmante Idee sind. Schade!
(Ob der Zusammenbau der 3 Synthesizer zu einem einzigen großen dann eine bewusste oder unbewusste Reminiszenz an Rumäniens Miracle aus dem Jahr 2014 sein soll, bleibt erst mal offen).
Aber wie es für Island auch ausgeht: mit 2,08 Meter Größe dürfte der Wahlberliner Daði schon jetzt einer der ganz Großen in der Geschichte des ESC sein.
Serbien
Das serbische Trio Hurricane weiß, dass jede der drei Frauen ohne Probleme viele Männer um die Finger wickeln kann. Und so singen sie selbstbewusst und siegessicher das Lied Loco Loco: Ich bin süß wie Choco Moco, komm, sei mein Loco. [Sic!]
Und dass sie ihre Wirkung auf einen Großteil der heteronormativen Männer genießen, das sei Sanja, Ksenija und Ivana vergönnt. Um diese Wirkung zu erzielen, bedarf es leider immer noch eines passenden Outfits, das hier auch gut abgeliefert wird. Mir gefällt an dem Text, dass das Geschehen hier nicht die Männer bestimmen, sondern die Frauen. Sie machen die Männer an, die ihnen gefallen. Gut so.
Musikalisch rauscht dieser Song leider vorbei, als Pausenfüller in der ESC Disco, um die Tanzfläche etwas leerer zu bekommen, ganz gut, aber sonst habe ich es jetzt fast schon wieder vergessen.