Der Aufreger
Seit gestern sorgt eine Nachricht innerhalb der ESC-Bubble für Furore. Das britische Blog wiwibloggs hatte aus einem Interview der portugiesischen Zeitung Publico mit dem Vorjahressieger Salvador Sobral eine kurze Passage zitiert, wonach er den diesjährigen israelischen Beitrag als „schreckliches Lied“ bezeichnet habe und seine Trauer darüber äußert, dass sich seit seinem Sieg doch nichts geändert habe. (-> zum Nachlesen)
Nun ist wiwibloggs ein Blog, das oft gute Laune, lustige Ideen und spaßige Rezensionen verbreitet, aber eben auch ein Blog, das oft im Verdacht steht, sehr schnell und publicity-wirksam Sachverhalte verkürzt widerzugeben und Skandal-Seifenblasen zu produzieren.
Und obwohl kaum einer oder eine des Portugiesischen mächtig die Quelle innerhalb so kurzer Zeit überprüfen konnte, verbreitete sich die Empörung im Netz und rief Wut und Abscheu auf der einen Seite sowie Leugnung und Beschwichtigung auf der anderen Seite bei den Fans Sobrals hervor.
Der letztjährige kroatische Sänger Jacques Houdek reagierte prompt und heftig und schoss dabei weit über das Ziel hinaus, indem er Sobral den Sieg abspricht und ihn seiner Erkrankung wegen vom letztjährigen Contest hätte disqualifiziert hätte sehen wollen:
Dazu erübrigt sich jeder Kommentar. Die in Salvador Sobrals Kritik benannte israelische Sängerin Netta dagegen zeigte eine würdigere Reaktion. Auf Twitter postete sie: „Ich sende einfach nur Liebe an Salvador und an alle Künstler jeglichen Genres.“
Die Quelle
Die von wiwibloggs zitierte Passage stammt aus einem langen und extrem ausführlichen Interview der portugiesischen Zeitung Publico mit Sobral. (-> das vollständige Interview).
Über etliche Seiten geht es um Sobral und sein Leben nach dem Sieg in Kiew, seine Probleme mit Fans und Ruhm und natürlich auch um seine Herzoperation. Es ist ein sehr persönliches Interview über die Befindlichkeiten des portugiesischen Sängers, der sich augenscheinlich danach sehnt, weniger im Licht der Öffentlichkeit zu stehen und seine Musik machen zu können. Für ihn, so Sobral, schließe sich nun ein Kreis, der seinen Anfang in Kiew genommen habe und der nun am Samstag zu Ende ginge. Der Eurovisions-Gewinner Sobral sei dann aus dem Blickfeld entschwunden und es gäbe nur noch den Musiker Salvador Sobral, endet der vorletzte Absatz des mehr als 3000 Wörter umfassenden Interview-Textes.
Den Stein des Anstoßes liefert dann ein Absatz aus 94 Wörtern, mit denen das Interview endet (siehe Bild oben):
„Hast Du die Beiträge des aktuellen Jahrgangs gehört“ wird Sobral gefragt.
Seine vollständige Antwort lautet (übersetzt von einem portugiesischen Kollegen):
„Nein. Ich kenne nur das portugiesische Lied und das israelische, weil YouTube mich gezwungen hat, es zu anzusehen. Wunder der Technik. Plötzlich dachte YouTube, ich würde das israelische Lied mögen, und dann öffnete ich es und ein schreckliches Lied kam zum Vorschein. Ich dachte: YouTube, vielen Dank, aber das ist nicht, was ich (hören) will. Glücklicherweise muss ich dieses Jahr gar nichts hören. Ich glaube nicht, dass sich etwas geändert hat. Letztes Jahr sagten die Leute: ‚Jetzt, wo du gewonnen hast, wird sich das ändern!‘ Ich glaube das nicht. Vielleicht in der Zukunft…“
Es lässt sich nun vortrefflich streiten, ob eine knappe Abschlussbemerkung eines langen Interviews zu einem Skandal aufgebauscht werden sollte. Tatsache ist aber, dass Sobral es eben so gesagt hat. Ein diplomatischerer Mensch als er hätte vielleicht zumindest keine Namen genannt – ein würdiger Gastgeber hätte auf die Frage vermutlich einfach mit „Nein“ geantwortet.
Deshalb gibt die Äußerung natürlich ein Bild von Sobral, das sich bereits nach seinem Sieg in Kiew in seinen Dankesworten abgezeichnet hat: Salvador Sobral selbst betonte direkt nach der Entgegennahme des Preises, dass „in einer Welt von Fast-Food-Musik ohne Bedeutung“ sein Sieg für Musik stehe, die „wahre Gefühle statt Feuerwerk“ ausdrücke. (-> unser Bericht).
Bereits damals herrschte Entsetzen über diese Äußerungen, allerdings haben sie auch Künstlerinnen und Künstlern Mut zur Teilnahme am diesjährigen Wettbewerb gemacht, wie etliche von ihnen bei den diversen Pressekonferenzen der vergangenen Woche erwähnten.
Und bereits damals haben wir geschrieben, er sei kein Diplomat sondern ein Überzeugungstäter.
Kommentar
Die Äußerungen Sobrals vom vergangenen Mai konnten unzweifelsfrei seiner Leidenschaft, seinem Engagement und dem Moment des Sieges zugeschrieben werden, auch wenn sich einem damals schon der Verdacht auf mangelnde Impulskontrolle aufdrängte.
Er sah sich damals schon etwas messianisch als Retter des Song Contests und distanzierte sich gleichzeitig permanent von seiner eigenen Teilnahme daran. Kollegial hat er sich schon damals nicht verhalten.
Dies hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, für seine Leistung kürzlich den Verdienstorden des portugiesischen Präsidenten entgegenzunehmen.
Und er wird auch am Samstag im Grand Final auf der Bühne stehen und singen – natürlich „echte Musik“ zusammen mit dem 75jährigen Caetano Veloso, der als Legende der brasilianischen Musik-Szene gilt. „Ich werde in Ohnmacht fallen“ kommentiert er diesen geplanten Auftritt im obigen Interview.
Gleichzeitig will er angeblich keine Musik des diesjährigen Jahrgangs hören und das Ganze abschließen und hinter sich lassen.
Tatsächlich erscheint Salvador Sobral hier wankelmütig und nicht mehr ganz so authentisch wie er es gerne sein möchte. Eines ist jedoch klar: er ist der Gastgeber hier in Lissabon für alle Musikerinnen und Musiker des Jahrgangs und als solcher zeigt er mit seinen Äußerungen keine große Gastfreundschaft.
Er ist schlecht beraten und wirft einen Schatten auf die sonstige Herzlichkeit hier.
Um es klar zu sagen: niemand muss jede Musik gut und sinnvoll finden. Schrott bleibt Schrott und natürlich gibt es Fast-Food-Musik beim ESC ebenso wie auch sonst überall – aber es gibt Gelegenheiten darüber zu sprechen und solche, dazu zu schweigen. Diesen Unterschied hat Sobral bisher nicht akzeptiert.
Aber der heutige Shitstorm gegen ihn in den sozialen Medien ob der wiwibloggs-Meldung schießt wie im Fall Houdek weit über das Ziel hinaus: zu viele nutzen das Interview, um ihren Unmut über einen Sieger abzuladen, dessen Sieg und dessen Lied sie eh nie gemocht haben. Da kann ich auch nur sagen: besser mal schweigen!
Und den Kolleg*innen von wiwibloggs hätte es auch gut angestanden, das ganze Interview vorzustellen und nicht nur auf ein Zitat verkürzt als Skandolon-Meme zu verbreiten.
Denn dies alles ändert nichts an Sobrals herausragenden Qualitäten als Musiker und wertet weder seinen Sieg noch seine zarte und sanfte Stimme und seine Begabung zum stimmlichen Ausleben eines Liedes ab. Ich freue mich weiterhin auf seinen Auftritt am kommenden Samstag und werde ihm ganz sicher weder den Applaus verweigern noch sein Amor Pelos Dois deshalb weniger lieben.
salvador i love you feeling -you´re a great singer und your wondrful sister