Am heutigen Samstagabend findet im Pavillon 2 des Expo-Geländes in Tel Aviv das Finale des 64. Eurovision Song Contests statt – und trotz eines eindeutigen Favoriten bei den Buchmachern rechnen wir mit einem spannenden Abend.
Die Ausgangslage
Die Niederlande führen in den Wettbüros mit großem Vorsprung, aber es liegt in der Natur des ESC, dass dies nichts heißen will. Als heiße Mitfavoriten gelten Australien, die Schweiz und Italien. Der Vollständigkeit halber: natürlich rechnet man in Russland mit einem russischen Sieg. Und dann gibt es natürlich noch Island als Dark Horse!
Wenn über den Song Contest zwar immer diskutiert wird, als gäbe es allgemeingültige Weisheiten, so handelt es sich doch letztlich um Geschmacksache. Trotzdem wagen wir zu prognostizieren, dass für jeden Geschmack etwas dabei und das Starterfeld im Ganzen ausgesprochen unterhaltsam sein wird. Und was wäre Eurovision, wenn sich nicht auch ein paar Merkwürdigkeiten ins Starterfeld des Finales geschmuggelt hätten?! Aber wir selbst empfinden weitaus mehr Euphorie als Verstimmung…zumindest jetzt noch!
Vor allem bringen die Veranstalter umwerfende Show-Elemente auf die Bühne – ein großartiges Spektakel mit vielen großen Namen!
Alle 26 Songs
Die Texte aller Songs haben wir bereits genau unter die Lupe genommen.
01) MALTA
Michela: Chamäleon
„Boooooah, ist mir langweilig“
Mit 18 Jahren kann das Leben so öde sein, so scheint uns der Blick von Michela aus dem Fenster zu sugerieren. Um so überraschender, dass es eigentlich darum geht, dass die Sängerin sich überall zurecht findet, leider nicht immer in der Welt der richtigen Töne.
Unser ESC-Herz für nahezu perfekte Ausdruckslosigkeit im Gesicht.
02) ALBANIEN
Jonida Maliqi: Ktheju tokës
Sängerin in akuter Gefahr
Manchmal fürchtet man um das Leben der Sängerinnen. So auch bei Albanien. Nachdem sich die Pyromanen in der albanischen Delegation durchgesetzt haben, hoffen wir, dass es zu keinem Funkenschlag kommt. Schwarz-golden und düster wird eine Balkan-Ode mit pathetischem Rückkehr-Appell an alle emigrierten Albaner gesungen: In der Fremde sei man allein und ohne Identität.
Unser ESC-Herz für die hoffentlich immer präsente Feuerwehr.
03) Tschechien
Lake Malawi: Friend of a Friend
Mit 30 noch flexibel und unbeschwert
Albert Černý, der30 jähriger schlaksige Leadsinger von Lake Malawi, hat hier viel und ausdauernd gefeiert und dennoch immer perfekt abgeliefert. Ein gelber Flummi auf Beinen, der für unbeschwerte Lebensfreude steht. Aber weil er immer wieder darauf hinweist, dass die eine Frau eigentlich doch nur eine entfernte Bekannte sei, die er von früher kennt, sollte ein gewisses Misstrauen bei seiner Freundin nicht ganz abgelegt werden.
Unser ESC-Herz für die Fortführung der tschechischen Sprungtradition (nach Mikolas Josef im letzten Jahr).
04) DEUTSCHLAND
S!sters: Sister
Zickenkrieg ist doof
Der deutsche Beitrag hat eine Probe-Odyssee hinter sich und das Ergebnis besinnt sich auf die Stärken des Liedes. Zwei junge Frauen reflektieren in ihrem Lied den Umgang von Frauen miteinander. Manchmal wird aus unerfindlichen Gründen aus Freundschaft Krieg, obwohl man sich doch eigentlich gut versteht. Sich gegenseitig zu verletzten anstatt miteinander zu agieren, macht keinen Sinn. Carlotta und Laurita, 19 und 26 Jahre, haben für dieses Lied zueinander gefunden.
Das Lied wird es im starken Starterfeld schwer haben, sich zu behaupten.
Unser ESC-Herz für alle Sis und Bros in der Welt.
05) RUSSLAND
Sergey Lazarev: Scream
Auch russische Männer könnten weinen
Dank der hohen Anzahl an russischen Migrant*innen gibt es hier bei allen Proben und auch am Orange Carpet Sergej! Sergej! Sergej!-Schreie.
Doch das Lied, das die weichen Seiten eines Mannes zeigen soll, verfängt nicht. Da hilft auch keine Vervielfachung durch Spiegel und kein Sergej hinter dem Regen. Daher wird der osteuropäische Megastar wird seinen 3. Platz von 2016 trotz perfekter Leistung wohl nicht wiederholen können.
Unser ESC-Herz für den russischen Ralph Siegel: Filipp Kirkorov, der wieder einmal hinter dem aktuellen Titel steht. Und für alle verkannten ESC-Genies.
06) DÄNEMARK
Leonora: Love is Forever
So richtig weichgespült dreifach hyggelig
Die einzigen deutschen Worte im Contest: Liebe ist für alle da und der Schunkel-Rhythmus, wo man mitmuss – der dänische Song ist Gift für den Gehörgang, da er sich schnell festsetzt. Das ist mehr als ärgerlich, da hier wieder alles nur Friede Freude Eierkuchen gerecht weichgespült wird: Antipolitische Schönfärberei in Kinderbuch-Romantik mit Menschen aller Kontinente, die zusammen viersprachig schunkeln.
Unser ESC-Herz für die wiederholte dänische Copy and Paste Strategie (In diesem Jahr wurde 2016 Österreich zum Vorbild genommen (Loin d’ici von Zoe))
07) SAN MARINO
Serhat: Say Na Na Na
Gute Laune in kurzen Hosen
Der zweite Gute-Laune-Song in Folge hat den Vorteil, dass Serhat wirklich so zu sein scheint, wie es das Lied vorgibt: Immer gut drauf und immer bereit zu helfen.
Er ist zum zweiten Mal dabei und wurde trotz einer katastrophalen stimmlichen Leistung ins Finale gewählt, vielleicht nicht zuletzt auch wegen der kurz behosten schwedischen und deutschen Tänzer. Den Titel hat Serhat übrigens in 5 Minuten geschrieben – simpel, eingängig, schnell mitgesungen.
Unser ESC-Herz für alle Wiederholungstäter (neben San Marino in diesem Jahr Russland und Nordmazedonien).
08) NORDMAZEDONIEN
Tamara Todevska: Proud
Sei stolz auf Dich – Frauenempowerment
Der ESC steht für Balladen und einsam auf der Bühne stehende stimmgewaltige Frauen und Männer. Tamara Todevska beherrscht das Genre perfekt: ihr Auftritt optisch und stimmlich mehr als überzeugend. Mädchen und junge Frauen sollen ihre Ziele trotz aller Widerstände umsetzen und auf sich stolz sein! Da gibt es nichts hinzuzufügen. Ein Dark Horse im Starterfeld!
Unser ESC-Herz für alle Stimmakrobatinnen in langen, wallenden Gewändern.
09. SCHWEDEN
John Lundvik: Too Late for Love
Für die Liebe kreischen wir alle mit
Es gibt Lieder, da wird aus Begeisterung fast schon Hysterie. Und ja, spätestens wenn der Gospelgesang einsetzt, kennen hier bei den Partys die Menschen keine Grenzen mehr und stimmen ein. Denn eigentlich wollen wir alle doch nur das eine: die richtige Liebe finden und bloß nichts falsch machen.
Auf jeden Fall ein klarer Kandidat für den Sieg – doch das Los katapultierte Schweden in die erste Hälfte des Finales. Eine perfekte Mischung aus Ballade, Uptempo und Gospel, vorgetragen mit unbändiger Freude.
Unser ESC-Herz für die schönste rhetorische Frage des Abends. Denn wenn John fragt, ist es niemals zu spät für die Liebe.
10. SLOWENIEN
Zala Kralj & Gašper Šantl: Sebi
Kletten sind nichts dagegen
Als wir mit dem Delegationsbus der Slowenen vom Eröffnungsempfang mit in die Stadt zurückfahren durften, erlebten wir das Musikerpaar, wie es sich auf einem Doppelsitz ineinander verknoten konnte, weil sie noch ein bißchen schlafen wollten. Spätestens da haben die beiden unser Herz erobert, denn diese beiden können nur im Doppelpack funktionieren. Sie stützen sich, weil jeder für sich alleine vermutlich umfallen würde. Hier ist keine Zeile falsch, sondern es ist gemeinsam ertragener Weltschmerz, erzählt in monoton-schöner Lounge-Musik.
Unser ESC-Herz für Musiktherapie.
11. ZYPERN
Tamta: Replay
Das Rezept ‚Sex sells‘ funktioniert immer noch ausgezeichnet
Latex bis weit übers Knie, eindeutige Einblicke und belangloser Pop – die Zypriotin macht Männer zu ihrem willenlosen Spielzeug und würde zu gern den zweiten Platz der Insel von 2018 toppen. Doch das wird nicht gelingen, denn dazu ist die Stimme doch noch, gelinde gesagt, ausbaufähig.
Und hier kommen wir zu einem traurigen Kapitel für die Traditionalisten unter den ESC-Fans: Der Kleiderwechsel stirbt aus und existiert in diesem Jahr nur noch in der Variation Entkleiden. Neben Zypern hat es im Finale nur noch Belarus im Angebot. Und so schaut hin und genießt, wie ihr das Oberteil weggerissen wird.
Unser ESC-Herz für alle Inszenierungen, die alte Rituale lebendig erhalten.
12. DIE NIEDERLANDE
Duncan Laurence: Arcade
Manchmal kann Liebe richtig ätzend enden
Die gelbe Leiter kommt in der Umbauphase auf die Bühne und wir wissen, jetzt steht der gewaltige Umbau an, der für die Niederlande: Eine Kugellampe, vermutlich in einem der vielen blau-gelben Fachmärkte erworben, wird aufgehängt und schwebt während des Auftritts von oben herab, damit möglichst viele dem tiefen Blick des Sängers erliegen.
Hier also der Wettfavorit, der traurig und bewegend mit beeindruckender Kopfstimme singt. Alle Liebe, die er geben konnte, ist aufgebraucht wie die Münzen im Schlitz des Spielautomaten. IWir denken, es gibt etliche unter den Zuschauern, die hier tröstend helfen würden.
Unser ESC-Herz für den Einsatz für unverständliche Gesten (Was hat das Keyboard Duncan getan? Warum muss er es schlagen?)
13. GRIECHENLAND
Katerine Duska: Better Love
Ein Hoch auf das griechische Theater!
Nach dem Keyboard-Lampen-Minimalismus geht es nun nach Griechenland zum Kontrastprogramm: Fechtende Griechinnen, die ihr Sportgerät gegen Flatterbänder austauschen, Schmetterling mimende Tänzerinnen und – ach ja – auch noch eine Sängerin. Ein Ball wird dann noch ins Publikum geworfen und schließlich dreht sich sogar noch die Kulisse und wir haben plötzlich ein Blumenmeer.
All das Spektakel muss sein, um vom Lied abzulenken, denn es ist eben nur ein ganz normales Standardpop-Stück, das die bessere Liebe besingt.
Unser ESC-Herz für den Einsatz von Weiß als Kleidungsfarbe.
14. ISRAEL
Kobi Marimi: Home
Der verlorene Sohn
Israel schickt in diesem Jahr einen Freddie Mercury ins Rennen, der statt Barcelona mit Montserrat Caballé Home allein singt. 27 Jahre alt ist er und heißt Kobi Marimi.
Gleich einem verlorenem Sohn kommt er nach vielen, anstrengenden Erfahrungen nach Hause und kann stolz verkünden, dass er nun jemand geworden ist. Besonders schön ist das Bild auch dadurch, dass er seine Backings mit einbezieht (Molitva-Formation!) und damit klar macht: Alleine hätte ich es nie geschafft.
Wie stolz und glücklich Kobi sein Auftritt für Israel macht, merkte man in der Pressekonferenz: Positiv sehr bewegt nahm er die Kommentare auf und immer wieder schienen ihm Tränen der Rührung in die Augen zu schiessen.
Unser ESC-Herz für die ESC-Versessenheit der Israelis – 90 Prozent sind textsicher. Nur die Apothekerin in der Sheinkin mochte den Song nicht!
15. NORWEGEN
KEiiNO: Spirit in the Sky
Nordlichter-Eurotrash für Akzeptanz
Beim ersten Hören waren wir entsetzt: wer glaubt denn, dass Euroschlager noch funktioniert und wer hat da entschieden, dass ein Schwuler, ein Same und eine Frau zusammen eine frohe Botschaft über Nordlichter verkünden?
Doch nach unserem Gespräch mit der Gruppe haben wir verstanden, dass hier wirkliche Überzeugungstäter am Werk sind. Ich will keine Balladen singen, so Alexandra, sondern eben kitschigen Pop. Und die Freude ist ihr anzusehen. Und seit wir wissen, dass der Initiator der Gruppe bekennender Berliner ist, haben wir KEiiNO nahezu adoptiert. Ein Hoch auf den Schlager a la Helene Fischer mit samischen Jodlern, Rentieren und einer Botschaft für Akzeptanz.
Unser ESC-Herz für die Homo-Relevanz des ESC!
16. GROßBRITANNIEN
Michael Rice: Bigger Than Us
Ein englischer Kleinstadtjunge aus Hartlepool besingt die Liebe
John Lundvik singt für Schweden und schreibt für das Vereinigte Königreich. Das ist erlaubt. Nicht erlaubt ist dagegen, dass man als Backing für zwei Länder antritt. Deswegen verlor Michael Rice eine seiner Backings an Schweden.
Doch das Ergebnis kann sich hören lassen. Der 21jährige, der bei McDonalds gearbeitet hat und jetzt den Waffel- und Crêpes-Laden seiner Mutter unterstützt, ist der Engländer einfach anzusehen und anzuhören – man verzeihe uns diese stereotype Unkorrektheit; wir sind beim ESC!
Aber das Lied BiggerThan Us ist einfach nett anzuhören, weil hier jemand noch fest an die Kraft und die Allmacht der Liebe glaubt – das tut gut und macht warm ums Herz. Und da sich Michael anders als in der britischen Vorentscheidung bezüglich seiner Bewegungen etwas zu beherrschen weiß, freuen wir uns auf seinen Auftritt, so einfach und billig das Lied auch sei – eine unserer guilty pleasures!
Unser ESC-Herz für den erlaubten schlechten Geschmack.
17. ISLAND
Hatari: Hatrið mun sigra
Beängstigend überzeugender Hass
Rollenspiele gehören zu der Sexualität. Doch wann wird aus dem Spiel Ernst? Mit den Bildern von Unterwerfung und Dominanz spielt die isländische Gruppe Hatari auf ganz besondere Weise. Was passiert eigentlich, wenn diese Rollenwahl eben nicht mehr freiwillig ist: Denn mit ihrer Dystopie will die Band zeigen, was der Kapitalismus mit Europa anrichtet: Der Hass wird siegen! Ein beeindruckendes, die Fans begeisterndes Kunstprojekt.
Unser ESC-Herz für die politischen Botschaften in den Liedern
18. ESTLAND
Victor Crone: Storm
Ein schön anzuschauender schwedischer Sturm aus Estland
2015 nahm der Schwede Victor Crone beim Melodifestivalen teil, schaffte es aber nur in die Second-Chance-Runde, wo er gegen Samir & Viktors Titel Groupie verlor – in Estland hatte er nunmehr mehr Erfolg.
Da das Lied lange drei Minuten dauert, sei darauf hin gewiesen, dass mit Victor Crone noch fünf weitere Personen mitsingen. Sechs sind ja insgesamt auf der Bühne erlaubt, sie müssen aber nicht zu sehen sein, und so stehen sie versteckt im Dunkeln hinten links. Wir können sie zumindest von unserem Platz aus erahnen.
Unser ESC-Herz für die viel zu sehr unterschätzten Backings, ohne die so mancher in eine Flaute geraten würde.
19. BELARUS
ZENA: Like It
Kopfschmerzgefahr – 15 Umdrehungen
Weißrussland hat auf billige Effekthascherei gesetzt und Erfolg gehabt: Eine 16-jährige Britney Spears und zwei Tänzer, die sich insgesamt 15 mal überschlagen. Angesichts dieser Anblicke ist das gebotene Liedgut fast schon zweitrangig. Und es geht auch darum, dass die Männer ähnlich wie bei Zypern nach der Pfeife der Sängerin tanzen. Und somit haben wir hier auch den zweiten Kleiderwechsel des Abends zu verzeichnen, auch wenn es nur ein kleiner ist. Das Schlimmste an dem Lied und der Künstlerin ist die in jeder Weise fehlende Natürlichkeit.
Unser ESC-Herz für den unglaublichen Körpereinsatz aller Tänzer.
20. ASERBAIDSCHAN
Chingiz: Truth
Mister Eurovision 2019 singt von der verflossenen Liebe
Sein Herz wurde zerstört und muss nun operiert werden. Gefälliger Elektropop – das Bild der „Himmelfahrt“ dann aber doch etwas zu überinszeniert. Chingiz (28) gewann in seinem Land 2013 Pop Idol und nahm 2016 bei der The Voice Ukraine teil. Er mag seinen Hund, Yoga und Kung Fu und hat hier durch sein Lächeln (und die Muskeln) die Herzen vieler in Sturm erobert.
Da eine Backing-Sängerin ausgefallen war, sprang eine israelische Sängerin ein – einen Tag vor den Proben.
Unser ESC-Herz für die Wiedereinführung der Laser als Inszenierungselement
21. FRANKREICH
Bilal Hassani: Roi
Wir sind alle König – oder Königin!
Mit 19 Jahren ist Bilal Hassani ein junger Künstler mit einer Ausstrahlung, die es in sich hat. Der mit langer blonden Perücke auftretende Künstler musste sich viel Häme anhören, nachdem er für Frankreich ausgewählt wurde.
Der Kritik an seiner Stimme ist er durch wochenlanges Üben entgegen getreten.
Auch Selbstdarstellung war ihm vorgehalten worden. Doch die entkräftet er, indem er den Blick von sich weg auf seine beiden Tänzerinnen lenkt: beide haben gegen viel Widerstand und Spott ihren Traum vom Tanzen verwirklicht, denn die eine ist adipös, die andere gehörlos.
Stehe zu dem, der Du bist oder getreu dem Motto des ESCs in diesem Jahr: Wage zu träumen (Dear to Dream).
Unser ESC-Herz für das Motto des Song Contests Dare to Dream!
22. ITALIEN
Mahmood: Soldi
*Klatsch* *Klatsch*
Aus Italien kommt ein unglaublich sympathischer Angry Young Man. Der 27-jährige San-Remo-Gewinner Mahmood erzählt seine eigene Geschichte: Als Sohn einer Italienerin und eines Ägypters kennt er kaum den Vater, der die Familie früh verlassen hat. Zwischendurch hört er zwar vom Vater, der ihm aber immer wieder nur die Frage nach „Soldi“, also nach Geld, stellt.
Die ständigen Verletzungen brennen sich Mahmood ein, denn Liebe kann man eben nicht kaufen. Wir spüren die Wut über seinen Vater in jeder Zeile seines Songs.
Songs über Vater-Sohn-Beziehungen sollten mindestens einen vierten Platz erreichen.
Unser ESC-Herz für die Publikums-Beteiligung der markanten Mitklatscher am Ende der Refrain-Zeile: „Pensavi solo ai soldi, soldi *klatsch, klatsch* Come se avessi avuto soldi, soldi *klatsch klatsch*.
23. SERBIEN
Nevena Božović: Kruna
Männerbeweihräucherung
Merkmal des serbischen Auftritts ist ein Bein, das aus einem Kleid ragt, als wäre es am Boden festgeklebt.
Das Ballade klingt schön, doch die Botschaft ist heteronormativ-konservativ:
Der (eine) Mann ist die Krone der Schöpfung und ihm folgt sie bedingungslos. Sechs Windmaschinen und Nebel schaffen ein spektakuläres Bühnenbild.
Unser ESC-Herz für die Windmaschinen.
24) Schweiz
Luca Hänni: She Got Me
Wecke den Latino in Dir!
Latinopop und eine perfekte Choreografie – der DSDS-Sieger 2012 wird in diesem Jahr die Schweiz nach oben katapultieren und die Halle zum Tanzen bringen.
Dirty Dancing oder singt er doch eher Dörty Dänzing?
Wir sind jedenfalls begeistert und lassen uns von einem Schweizer (!) Beitrag von den Stühlen reißen. Das gab es schon lange nicht mehr.
Unser ESC-Herz für unerwartete neue Favoriten-Länder
25. AUSTRALIEN
Kate Miller-Heidke: Zero Gravity
Kalvarienberg oder Australierinnen am Stiel!
Techno-Popera und eine atemberaubende Inszenierung bietet Australien:
Es geht um das Gefühl der Leichtigkeit nach dem Überwinden einer Depression.
Selten wurde ein schweres Thema so gelungen mit Leichtigkeit umgesetzt. Nach dem ersten Ansehen stand uns der Mund offen!
Wenn wir wetten sollten, dann würden wir seit vorgestern auf Australien setzen. Großes Kino.
Doch bei einem Sieg könnten wir nächstes Jahr gar nicht Down Under feiern. Das australische Fernsehen würde mit einer europäischen Sendeanstalt kooperieren müssen und der ESC wprde dann dort stattfinden.
Unser ESC-Herz für die Möglichkeit eines ESC 2020 in Berlin!
26. SPANIEN
Miki: La Venda
Systemkritik mit Strand-Polonaise
In den verschiedenen Räumen eines Hauses gehen Menschen ihren Beschöftigungen nach. Sie führen ein tristes Leben in erstarrter Routine. Doch dann kommt Miki und berührt sie mit seinem Song. Die Menschen verlieren ihre Augenklappen und das Leben in vollen Zügen kann beginnen.
Dann aber schlägt das System in Form des Roboters Paco zurück. Doch der kann abgewehrt werden, denn die Menschen um Miki sind jetzt stark. Jetzt geht der Tanz erst richtig los.
Die nette Puppenstubenatmosphäre in IKEA-Optik ist leider etwas zu viel. Die Zuschauer werden angesichts der Diskrepanz zwischen Sommerhit-Sound und inhaltlichem Anspruch eher verwirrt.
Doch irgendwie macht es auch Spaß und wir singen alle zusammen: „La venda ya cayó“!
Unser ESC-Herz geht an die spanische Niederlassung des schwedischen Möbelhauses, die das Bühnenbild auf Twitter gleich für Eigenwerbung nutzten:
La venda se le va a caer a @mikiot2018 cuando vea que esto ya lo tenía en casa. #Eurovision pic.twitter.com/wXIxd3uzvy
— IKEA España (@IKEASpain) May 16, 2019
Die Show
Opening
Eröffnet wird das Grand Final gemeinsam von der Vorjahressiegerin Netta, mit der Siegerin von 1998, Dana International, Tel Avivs „Golden Boy“ Nadav Guedj sowie die Viertplatzierte von 1973 Ilanit mit Ey-Sham!
Und nach Jahren der Flaggenparaden wird diesmal eine wunderbare Alternative geboten, wenn Netta alle Kandidatinnen und Kandidaten in die Halle einfliegt, wo diese in ihrer jeweiligen Landessprache begrüßt werden. Auch der Blick an die Hallendecke lohnt sich!
Unbedingt pünktlich einschalten – toll gemacht!
Postcards
Wir haben es schon bei den beiden Semis geschrieben: die Idee der diesjährigen Trailer vor jedem Auftritt ist bezaubernd und mitreißend. In der ESC-Fachterminologie werden sie „Postcards“ genannt, weil sie früher ausschließlich der touristischen Werbung fürs Ausrichterland dienten. Das ist natürlich auch diesmal so – Israel will sich schließlich präsentieren. Doch der Fokus liegt wie selten zuvor ganz auf den Künstler*innen. „Dare to Dance“ nennt der produzierende Sender KAN die postcards – und alle haben es tatsächlich gewagt, zu tanzen, auch wenn sie sich auf der Bühne sonst nicht bewegen!
Wieder da: der Greenroom
Aus Platzgründen gibt es den guten alten Greenroom wieder. In den letzten Jahren saßen die Künstler*innen mit ihren Delegationen mit dem Publikum in einem Bereich der Halle. Die ist jedoch diesmal mit einem Fassungsvermögen von 7200 Zuschauern eh schon zu klein. Also wurde der Greenroom in einem Nachbarpavillon ausgelagert. Auch Zuschauerplätze gibt es dort. Darum wird mehr als sonst aus dem Greenroom agiert und moderiert.
Die Intervall-Acts
Die Fans des TV-Formats „Sing meinen Song“ kennen das schon: Künstler*innen singen den Song einer anderen Künstler*in.
Heute stehen fünf große Namen der Eurovision auf der Bühne und singen jeweils den Song der Kollegin oder des Kollegen. Eine bezaubernde Idee mit Gali Atari (Siegerin 1979 mit Milk & Honey: Hallelujah), Verka Serduchka (2007 Zweite mit Dancing Lasha Tumbai), Conchita Wurst (Siegerin 2014), Måns Zelmerlöw (Sieger 2015 mit Heroes) und Eleni Foureira (Vorjahreszweite mit Fuego).
Und auch einer der Großen der israelischen Musik abseits des Song Contests steuert eine Nummer bei: Idan Raichel , bekannt für seine Verschmelzung von elektronischer Musik mit traditionellen hebräischen Texten sowie nahöstlicher und äthiopischer Musik!
Haben wir nicht jemanden vergessen? Ja, richtig: die amtierende Queen der israelischen Eurovision kommt mit einer Kulisse, die bereits an Like a Prayer denken lässt: Netta präsentiert ihren neuesten Song Nana Banana – natürlich ganz in Gelb!
Madame X
Ein klein wenig ist uns fast die Lust vergangen nach all dem Hin und Her der vergangenen Wochen. Auftritt bestätigt, Auftritt zweifelhaft, Auftritt bestätigt, Vertrag nicht unterschrieben…und so weiter.
Doch seit Donnerstag ist klar, dass Madonna heute Abend in Tel Aviv auftreten wird. Zum 30-jährigen Geburtstag von Like A Prayer wird sie dies auf die ESC-Bühne bringen. Um dann mit dem Rapper Quavo erstmals den gestern veröffentlichten Song Future zu performen.
Wir geben zu: wir schätzen die Grand Dame des Pops noch immer und beteiligen uns nicht am altersdiskriminierenden Madonna-Bashing.
Trotzdem liegt uns daran weitaus weniger als am Rest der Show – ist ja nicht so, als würde Madonna erstmals auf der Bühne stehen.
Aber unbestreitbar verhilft der Auftritt nicht nur der Bewerbung ihres neuen Albums, sondern bringt auch den Song Contest zusätzlich in die Medien und ins Gespräch.
Deshalb empfehlen wir allen Hardcore-Fans: Schnappatmung einstellen und genießen!
Übertragung
Das Grand Final beginnt um 21 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit – hier in Tel Aviv also erst um 22 Uhr.
Übertragen wird es im Ersten, auf ONE, der Deutschen Welle
sowie in Livestreams auf dem Eurovisionskanal von youtube (dort im Originalton ohne deutschen Kommentar) und auf eurovision.de.
Mehr zum barrierefreien Angebot der ARD findet sich hier auf eurovision.de.