Vorsicht vor Risiken und Nebenwirkungen: unser Beipackzettel zum zweiten Semifinale

Heute Abend werden die letzten zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer für das Grand Final des Song Contests am Samstag an Bord geholt.

Und diesmal darf auch das deutsche Fernsehpublikum mit abstimmen. Die Wahl dürfte dabei auch viel leichter fallen als am Dienstag.

Wir stellen alle 18 Songs vor – sämtliche Bilder stammen vom ‚Blue Carpet‘, der Eröffnungszeremonie des Song Contests am vergangenen Sonntag.

Die Songs

01) Norwegen

Alexander Rybak: That´s How You Write A Song

Norwegen schickt seinen fiedelnden Superstar aus dem Jahre 2009 mit einem sagen wir mal eher simplen Song ins Rennen. Doch so einfach dieser ist, so wirkungsvoll ist er auch, und alle wissen nach dem Song, wie man ein Lied schreibt: „Glaube an dein Lied und bleibe am Ball“.

Alexander Rybak (re.) | © Martin Schmidtner

Gute Laune mit einem charmanten Sänger. Sicher im Finale.
Neben Rybaks Kulleraugen ist „augmented reality“ der Clou der Inszenierung, eine computergestützten Erweiterung der Realitätswahrnehmung der Zuschauer – wie seinerzeit bei Måns Zelmerlöw.

02) Rumänien

The Humans: Goodbye

The Humans | © Martin Schmidtner

Im Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts bei Nacht: Rock aus Rumänien, der melodisch beginnt, dann aber in rockige Beliebigkeit abgleitet. Raff‘ dich endlich auf, sonst sage ich Tschüss –  wir sind erleichtert, dass wir nach drei Minuten „Auf Wiedersehen“ sagen können und raffen uns nicht auf.

03) Serbien

Sanja Ilić und Balkanika: Nova Deca

Balkanika | © Martin Schmidtner

Trotz des Namens der Gruppe sucht man Sanja Ilić vergeblich auf der Bühne. Der Chef der Musikgruppe Balkanika überlässt das Singen den anderen Mitgliedern seiner Band. Das Lied selbst ist eine so belanglose, austauschbare Balkanweise im sattsam bekannten Pseudo-Ethno-Stil, dass wir uns beim Zuhören alle möglichen Übersetzungen überlegen: „Ich finde meinen Schlüssel nicht…na…na…ne…“

04) San Marino

Jessika featuring Jenifer Brening: Who We Are

Jessika (re.) und Jenifer (li.) | © Martin Schmidtner

Eine Malteserin und eine Berlinerin, die noch nie in San Marino waren, vertreten den Zwergstaat und singen (zum Mitsingen): „We are who we are and who we are is who we wanna be“ – eine bemerkenswerte Botschaft, die eigentlich nur im Semifinale zu hören sein dürfte. Da helfen auch keine süßen Roboter.

05) Dänemark

Rasmussen: Higher Ground

Ganz liebe und friedliche Wikinger | © Martin Schmidtner

Zur Ästhetik von Games of Thrones bietet uns Dänemark Wikinger, die sich für ihr Intro bei einem ihrer Raubzüge wohl erst mal schamlos am Stil der schwedischen Klängen von Loreens Erfolg Euphoria bedient haben, um dann stampfend und musikalisch auf die Brust trommelnd den Frieden zu besingen: „Friere den Pfeil in der Luft ein!“ – Ob man das mag oder nicht: es ist catchy!

06) Russland

Julia Samoylova: I Won’t Break

Julia Samoylova | © Martin Schmidtner

Wir haben das Gefühl, dass Russland 2019 nicht wieder antreten will. Anders können wir uns diesen Auftritt nicht erklären. Die Sängerin sitzt auf einem komischen Haufen, zu dessen Drapierung wohl Estlands Kleid aus dem ersten Semi annektiert wurde. Sie muss tief unten einen Tanz beobachten, der ihr Leben darstellen soll. Und wenn die Tänzer auch ihr Bestes geben, hat die ganze Inszenierung bestenfalls Schulaufführungsniveau! Stimmlich konnte Frau Samoylova bisher bei keiner Probe überzeugen.

07) Moldawien

DoReDoS: My Lucky Day

Lieblinge des Publikums: die DoReDoS | © Martin Schmidtner

Filipp Kirkorow ist eine Eurovisions-Legende und versteht sein Handwerk. Durch eine perfekte Inszenierung im Stil einer Shakespear’schen Verwechslungskomödie wird sein eher belangloser Song mächtig zünden. Die Setzkastenbühne, aus Elementen des „Sånga“-Systems zusammengesetzt, bringt Moldawien ins Finale und die Zuschauer schnell ins Grübeln, denn nur zwei Frauen agieren auf der Bühne, auch wenn mehr mehr Beine gezählt werden.

08) Niederlande

Waylon: Outlaw In’Em

Die Krumping-Tänzer | © Martin Schmidtner

In jedem von uns steckt ein Outlaw. Und was anderes als rockiger Bon-Jovi-Country passt, um diese Botschaft zu transportieren? Und auch wenn der Kontrast zwischen Musik und dem Krumping-Style der Tänzer wirkungsvoll Aufmerksamkeit erregt – Krumping entstand in der schwarzen Tanzszene Süd-LA’s -, so wirkt das Staging, wenn auch ganz sicher ungewollt, ein wenig  kolonialistisch: der weiße Mann erhebt sich über den schwarzen Bandmitgliedern und bestimmt, wer wann zu tanzen hat.  Unglücklich!

09) Australien

Jessica Mauboy: We Got Love

Jess – kaum da, schon wieder weg…auf dem Blue Carpet | © Martin Schmidtner

„Your Disco Needs You“ – die Botschaft Kylie Minogues aus dem Jahr 2000 wird von ihrer Landsfrau Jess Mauboy 2018 aufgegriffen: Also wer Glitzer und wildes Hüpfen mag: hier wird es geboten – in einer von Probe zu Probe immer verzweifelter veränderten Inszenierung, die aus dem eigentlich mitreißenden Song ein Debakel werden lässt, für das die australische  Delegationsleitung mindestens zu einem Boxkampf mit einem Känguru verdonnert werden sollte.
Immerhin: das Publikum im Juryfinale sah darüber hinweg – sind wir also auch gnädig, denn der Song an sich ist große Klasse.

10) Georgien

Ethno-Jazz Band Iriao: For You

Die Jazzer aus Georgien | © Martin Schmidtner

Wenn das Goethe-Institut uns zu einem Abend mit der von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe anerkannten georgischen polyphonen Musik einladen würde und wir eine Einführung in die Besonderheiten bekommen würden, wären wir sicher begeistert. So hören wir eine angepopte Variante, die authentisch zu sein vorgibt, aber es, sogar nach eigener Ansage der Gruppe, gar nicht ist. Stimmkünstler sind die Georgier, aber in den ersten beiden Generalproben versagte der bisher sichere Gleichklang und georgische Polyphonie bekam eine leider ganz neue Bedeutung. Da dürften eigentlich nicht mal die Jurys für einen Finaleinzug sorgen.

11) Polen

Gromee feat. Lukas Meijer: Light Me Up

Gromee (re.) mit Lukas | © Martin Schmidtner

Es ist von ausgesprochenem Vorteil bei diesem Wettbewerb, die Töne bei einem Lied zu treffen. Das gelingt nicht immer. Beim polnischen Beitrag gelang es bei den Proben noch nie. Aber es können auch Wunder passieren, gerade in Polen. Denn richtig gesungen handelt es sich um einen Gute-Laune-Groove, der in jeder 40plus-Disco super ankommt.

12) Malta

Christabelle: Taboo

Eine mutige Christabelle | © Martin Schmidtner

Psychische Erkrankungen sind ein Tabu – das weiß die maltesische Sängerin aus eigener Erfahrung und hat deshalb einen Liedtext geschrieben. Denn es muss Aufgabe aller sein, dieses Tabu zu brechen, „sonst wären wir doch nur Tiere“. Obwohl das Lied musikalisch von den Erfolgskomponisten Thomas G:son und Johnny Sanchez in Stromlinienform gepresst wurde, sind wir ob des Inhaltes etwas sanftmütiger.

13) Ungarn

AWS: Viszlát Nyár

AWS: raues Image, sanfter Kern | © Martin Schmidtner

Pyromanen werden begeistert sein: Mehr geht nicht. Stage-Diving inklusive! Aber was von vielen im Vorfeld als eurovisionsuntaugliches Geschrei abgetan wurde, entpuppt sich als äußerst sensibles Gesamtkunstwerk, von Frontmann Örs Siklósi nach dem Tod seines Vaters geschrieben, der sich die Trauer aus der Seele brüllt. Beeindruckend!

14) Lettland

Laura Rizzotto: Funny Girl

Funny Girl Laura | © Martin Schmidtner

Langeweile pur dagegen aus Lettland: Sie ist tief unglücklich, weil sie sich lächerlich gemacht hat und er jetzt eine andere liebt. Warum hat sie es ihm nicht vorher gesagt, dass sie ihn liebt? Wissen wir auch nicht, interessiert uns auch nicht. Beliebige Bar- und Clubmusik – kommt ja aber bekanntlich in Deutschland ganz gut an.

15) Schweden

Benjamin Ingrosso: Dance You Off

Benjamin Ingrosso | © Martin Schmidtner

Bist Du mies drauf, dann tanz es weg! Benjamin Ingrossos Song ist modern, perfekt durch einen Lichtlaufsteg und einfach wirkende, aber wirkungsvolle Moves in Szene gesetzt, sowie durch fünf Backings (3 weibliche, 2 männliche) unterstützt. Und des Sängers Vorliebe für die Bee Gees ist unverkennbar, musikalisch und im Aussehen.

16) Montenegro

Vanja Radovanovíc: Inje

Vanja (2.v.li.) | © Thomas Hanses (EBU)

Gerne würden wir dieser traurigen Weise lauschen, die von einer mehr als traurigen Lebenssituation in Sachen Liebe berichtet, doch der blaue Anzug und die darin verborgenen Schulterpolster lassen uns erstarren und wir fragen uns, wer sich das nun wieder ausgedacht hat.

17) Slowenien

Lea Sirk: Hvala, ne!

Lea Sirk | © Martin Schmidtner

Nein sagen ist nicht immer einfach, aber manchmal bitter nötig. Diese universelle Botschaft, die nicht oft genug wiederholt werden kann, wird hier mit viel Power präsentiert. Wir sind vom Song angetan – einschließlich der eingebauten inszenatorischen Überraschung -, befinden uns damit aber in einer klaren Minderheit. Insofern zumindest unserJa zum Nein-Lied.

18) Ukraine

MELOVIN: Under The Ladder

Vampire zeigen sich zum Vollmond | © Martin Schmidtner

Für diesen Auftritt lohnt es sich durchzuhalten: Ein Klavier als Sarg, das dann noch bespielt wird. Selten haben wir so eine kunstvolle Auferstehung gesehen. Wir finden den ukrainischen Sänger ein wenig too much, aber Celebrate Diversity war ja das Motto im letzten Jahr – warum also nicht eine einseitige leuchtende Kontaktlinse?!

Die Show

Wie auch schon das erste Semifinale bietet auch das zweite keinen expliziten Intervall-Act. Die Zeit zum Televoting wird uns mit einer weiteren Folge von Einspielfilmchen überbrückt – leider wird die musikalische Ehrung an Salvador Sobrals Vorjahrestitel nicht fortgesetzt. Da hatten wir mit weiteren Beiträgen der Kiewer Teilnehmerinnen und Teilnehmer gerechnet.
Dafür sehen wir heute Outtakes der Postcards, wieder altbekanntes aus der ESC-Enzyklopädie sowie eine weitere eher mäßig spaßige Folge von ‚Planet Portugal‘. (Wenngleich ein Verfasser dieser Zeilen zu gerne wüsste, wo es in Lissabon Kaffee in Bechern größer als 0,1 l geben soll?!)
Wirklich gelungen finden wir natürlich einen Einspieler über unser Lieblingsthema: Politik und ESC – von Nicole bis zur Nelkenrevolution von 1974. Das ist mal eine neue Sichtweise im Reigen oft gleichförmiger Eurovisions-Rückblicke.

Und dann bieten die Moderatorinnen vollen Körpereinsatz beim Live-Tanz: es wird um die verschiedenen Tanzstile durch die ESC-Geschichte gehen.

Gut gefällt uns weiterhin die Umsetzung des Alle-an-Bord-Mottos mit den Flaggen in Seegras-Korallen-Optik, der Schiffs-Sirene, diversen Wortspielchen und feschen Matrosen als Assistenten.

Michael im Green Room | © Marc Schulte

Zu Gast im Green Room wird heute Abend auch Michael Schulte sein. You Let Me Walk Alone wird ebenso wie die Songs aus Frankreich und Italien dem Publikum per Video kurz vorgestellt. Und er darf dabei auch ein wenig live singen – wenn auch nicht seinen eigenen Titel.

Erfolgsaussichten

Folgende Länder sehen wir einigermaßen verdient im Finale:
Norwegen
Dänemark
Moldawien
Niederlande
Ungarn
Schweden
Ukraine
Australien
Für die restlichen zwei Plätze würden wir gerne die Schweiz und Armenien aus dem ersten Semifinale dazuholen!
Da dies leider nicht geht und wie gesagt Slowenien bisher nur bei uns gut ankam, wird das Finale am Samstag wohl mit Russland und Montenegro aufgefüllt werden. Oder mit irgendjemand anderem…

Übertragung

Das Semifinale beginnt um 21 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit – hier in Lissabon also schon um 20 Uhr.
Übertragen wird es im ARD-Sender ONE sowie in Livestreams auf eurovision.tv (dort im Originalton ohne deutschen Kommentar) und auf eurovision.de.

Auf ONE wird eine Untertitelung und eine Audiodeskription angeboten.
Im deutschen Livestream gibt es die Koppelung mit Social Media Kanälen, sowie Audiodeskription und deutsche Gebärdensprache.

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