Vor Risiken und Nebenwirkungen wird gewarnt – unser Beipackzettel zum Grand Final des Eurovision Song Contests 2021 in Rotterdam

Wettbewerb im Pandemie-Jahr

2020 fiel der Eurovision Song Contest aus. Mit einem Jahr Verspätung darf Rotterdam den Wettbewerb nun doch noch austragen und nutzt ihn als Feldversuch – 3500 getestete Personen dürfen in die Halle. 
Auf der Bühne geht es heute Abend in einen Jazzkeller, in einen weißen Wald und ins Universum – es wird geschrien, gerockt, getanzt und die Hoffnung geweckt, dass Konzerte bald wieder ganz normal sein können. 

Quarantäne statt Live-Auftritt

Einzige Wermutstropfen: Wegen positiver Coronatests kann Island nicht live auftreten und auch Duncan Laurence, der mit Arcade 2019 den Song Contest gewann und nach Rotterdam holte, wird nur aus der Quarantäne zugeschaltet werden.

Statistik

39 Länder hatten Beiträge gemeldet. 26, also genau 2/3 hatten sich entschlossen, denjenigen Künstlerinnen und Künstler eine Chance zu geben, die schon 2020 gemeldet waren. 26 haben es nun ins Finale geschafft, davon waren 16 bereits 2020 vorgesehen, also nur noch 61,5 Prozent.

Bei den heutigen 26 Beiträge hört man 13 mal weibliche Stimmen, 12 mal männliche Stimmen und bei San Marino gibt es ein gemischtes Duett.

Als Farbe für die Bekleidung der Sänger:innen gewinnt schwarz mit 11 Einsätzen, gefolgt von silber weiß (6) und rot (3). Je einmal vertreten sind lila, grün, pink, grau, gelb und blau.

Hier unser Kompass zum heutigen Finale:

Die 26 Acts

1. Zypern

Elena Tsagrinou – El Diablo

Elena hat sich mit dem Teufel eingelassen: herausgekommen ist eine plumpe Lady-Gaga-Imitation aus skandinavischer Eurovisions-Schmiede.

Sängerin Elena (26) bietet in Silberfransen mit vier Tänzerinnen allerlei akrobatische Übungen vor einem überdimensionalen Spiegel. Irgendwann muss es doch mal klappen, denkt sich Zypern und versucht alljährlich, mit skandinavischem Auftragspop einen Eurovisionssieg und einen Sommerhit zu landen.
Doch will man wirklich eine Kopie anstelle des Originals? Denn Stil und Outfit sind hemmungslos geklaut, aber da die Originale Lady Gaga (Musik) und Zara Larsson (Outfit) gut sind, ist es wenigstens eine schmissige Eröffnungsnummer.

Chancen: Wird bis zum Voting aber auch wieder vergessen sein.

In der Hölle ist es heiß! | Bild: EBU / Andres Putting

2. Albanien

Anxhela Peristeri – Karma

Für Anhänger der Balkanweise ein Goldstück, für andere eher lästiges Wechselgeld.

2001 hat Anxhela (35) bereits einmal am albanischen Vorentscheid teilgenommen.
20 Jahre danach führt uns Anxhela Peristeri mit Karma in tiefe Seelenabgründe: Gott wird mir nicht vergeben – Balkanschmerz in seiner höchsten Vollendung.
Die Bildsprache der Inszenierung als silbergewandete Diva im strahlenden Schein vor explodierenden Farbenspielen und mit Windmaschineneinsatz spricht eine andere Sprache.

Chancen: Dank Freunden des Genres und Albaniens in ganz Europa wird es auf jeden Fall vereinzelte Punkte geben.

Diva in Krise und Windmaschine | Bild: EBU / Thomas Hanses

3. Israel

Eden Alene – Set Me Free

Mit ihrer tanzenden Entourage mischt die X-Factor-Israel-Siegerin 2018 mit höchsten Tönen jede Party auf. Gute ESC-Ware – Kostümwechsel inbegriffen

5 Tänzer umwirbeln die 21-jährige Eden, die unter einer kunstvollen Haarkrone einen klassischen Kleiderwechsel absolviert.
Das ist nice und die Kiekser in allerhöchsten Tönen sind nicht nur beeindruckend, sondern sollen auch die höchsten je beim ESC gesungenen Töne sein.

Chancen: Zu viel Konkurrenz! Platz 15 wäre schon sehr gut.

Mit dem höchsten je beim ESC gesungenen Ton | Bild: EBU / Andres Putting

4. Belgien

Hooverphonic – The Wrong Place

Schau bitte nicht so böse, möchte man Sängerin Geike Arnaert anflehen. Hooverphonic inszeniert das Thema ‚Missratener One-Night-Stand‘ authentisch mit einem solidem Trip-Hop-Song.

Im schwarzen Cocktailkleid singt Geike Arnaert (41) vom bitteren Erwachen. Sie war von 1997 bis 2008 bereits Mitglied der 1995 gegründeten Band und kehrte 2020 wieder zu Hooverphonic zurück.
Im zugehörigen Musikvideo ging es für den beteiligten Liebhaber recht blutig aus und Geike stößt die Drohung Wage es nicht mein Johnny Cash T Shirt zu tragen überzeugend furchteinflößend aus.

Chancen: Punktet bei Liebhabern sogenannter „echter Musik“ und steht dabei in Konkurrenz zu Portugal. Wird vermutlich leider trotzdem nicht weit über die 20 hinauskommen.

Dunkel wie die Nacht: Hooverphonic | Bild: EBU / Thomas Hanses

5. Russland

Manizha – Russian Woman

Frauenpower!

Die klassische Matrjoschka kurvt wie ein Autoscooter über die Bühne. Manizha (29) steckt darin fest und wird fremdgesteuert – die Steckpuppe kann getrost als Verkörperung des Patriarchats gedeutet werden. Doch – „Make A Change“ leuchtet es auf dem Videoscreen – Frauen können raus aus diesen Strukturen und übergestülpten Korsetts und sich wehren.
Das Lied ist auch stilistisch eine Mischung aus traditionellem Gesang und Rap.
Die Tadschikin Manizha singt ihn im roten Overall einer russischen Arbeiterin für alle Frauen in Russland! Viele haben ihr Bilder von sich geschickt, die auf dem Screen gezeigt werden. Mindestens eine Transfrau ist da auch mit dabei.
Für ihr Engagement wird sie von russischen Traditionalisten oft angefeindet – sie ist aber keine Regimegegnerin, denn Russland habe ihrer Familie eine Heimat gegeben, betonte sie auf der Pressekonferenz.

Chancen: Für diesen Beitrag würden wir Russland eine Top-Platzierung mal so richtig gönnen, aber vermutlich wird es genau deshalb schwierig, überhaupt die Top-10 zu erreichen.

Befreit Euch! | Bild: EBU / Thomas Hanses

6. Malta

Destiny – Je Me Casse

Die 18-Jährige fegt mit ihrer Mega-Soul-Stimme alle Widerstände von der Bühne. Sie weiß, was sie will und keiner soll sie dumm anmachen. Mitreißende Body Positivity mit Siegambition!

Das war ein Drama zu Beginn der Proben, aber inzwischen hat sich die 18-jährige Sängerin für silberne statt pinker Fransen am Leibchen entschieden und die Hater im Netz sind verstummt. Hat aber alles natürlich auch nicht geschadet, jene Diskussion, die sich zwischen Body-Blaming und Stilberatung entspann.
Malta will unbedingt mal den ESC austragen. Zweimal Platz 3 und zweimal Platz 2 – viermal war der Sieg ganz nah. Und Destiny hat immerhin 2015 schon den Junior-ESC gewonnen. In diesem Jahr stehen die Zeichen wieder gut: Ein Uptempo Song, der Power, Körpergefühl und Selbstbewusstsein ausstrahlt: Destiny mit Je Me Casse. Die Buchmacher trauen ihr einen Spitzenplatz zu.

Chancen: Alle Chancen von einer Top 5-Platzierung bis hin zum Sieg.

….sonst bin ich raus! – Je Me Casse | Bild: EBU / Andres Putting

7. Portugal

The Black Mamba – Love Is On My Side

Gemächlich wirkt das Gift der Mamba und die charakteristische Stimme gräbt sich ins Ohr

Seit 2010 bestehen ‚The Black Mamba‘. Das betont Leadsänger und Schreiber des Songs Pedro Tatanka  gerne, denn die Bandmitglieder sehen sich als „echte Musiker“.
Seine charakteristische Stimme muss man mögen oder nicht – sein Song schleicht sich erst langsam in den Gehörgang ein. Doch dass das Gift der Mamba wirkt beweist das Hochkatapultieren des Beitrags auf den derzeit achten Platz bei den Buchmachern nach dem Semifinale.
Love Is On Your Side basiert auf einer Begegnung des Sängers mit einer alten Frau in Amsterdam, die vor 50 Jahren aus Osteuropa geflohen war. Obwohl keine ihrer Träume in Erfüllung gegangen ist und sie stattdessen drogenabhängig und Straßenprostituierte geworden war, blickt sie nicht mit Bitterkeit zurück.
Das Setting entführt uns in einen verrauchten Jazzkeller und stellt eine Zeitreise dar.

Chancen: Galt lange als aussichtslos, könnte nach Buchmacheransicht aber sogar die TOP 10 erreichen.

Klassisch und zeitlos | Bild: EBU / Andres Putting

8. Serbien

Hurricane – Loco Loco

Loco Loco – Männer sollen den Verstand verlieren angesichts des serbischen Wirbelsturms von Sanja, Ksenija und Ivana: Balkanpop mit Körpereinsatz.

Mit ESC-Erfahrungen im Gepäck weiß das 2017 gegründete Trio genau, wie es Stimmung machen kann, um überall in Europa punkten zu können. Das Rezept ist wie so oft eine starke Sexualisierung der Inszenierung.
Das ist nichts Neues, jedoch beobachten wir in den letzten Jahren verstärkt, dass all jene Beiträge, die vormals als sexistisch empfunden worden wären. jetzt darauf bedacht sind, diesen Sexismus-Vorwurf mit einem anderen Lieblingsthema des Song-Contests zu entkräften: Powerfrauen. Es sind immer starke und selbstbewusste Frauen, die hier auf der Bühne Männer unterwerfen, vorführen oder eben tun, worauf sie Lust haben.
Und auch bei Loco Loco behält das Trio natürlich alle Zügel in der Hand.

Chancen: Werden trotz sicherer Punktelieferanten nicht wirklich ins Geschehen eingreifen. sondern irgendwo in den 10er-Rängen auf der rechten Hälfte des Punktetableaus landen.

Wirbelsturm | Bild: EBU / Thomas Hanses

9. Großbritannien

James Newman Embers

Der 35jährige Brite hat zwar Angst vor Pyrotechnik, will aber aus der Glut (Embers) wieder ein Feuer entfachen. Nette, banale Blechbläser-Hymne.

Nach den Serbinnen macht eine solch unverfängliche Pop-Hymne eigentlich gute Laune.
Trotzdem hadert Großbritannien mit der Inszenierung. Die großen Trompeten als Stage-Props wirken überzogen und auch mit dem Outfit des 35-jährigen Sängers wurde bis zum Schluss experimentiert.
Großbritannien und Deutschland statten beide ihre Tänzer:innen mit Blasinstrumenten als Requisite aus – in den vergangenen Jahren waren es Deutschland und Großbritannien, die leider um den letzten Platz des Finales konkurrierten. – Hoffentlich kein böses Omen!

Chancen: Die gefällige Popnummer dürfte diesmal sicher vor einer Schlussplatzierung sein, auch wenn sie wohl kaum weit über Platz 20 hinauskommt.

Power-Posaunen | Bild: EBU / Thomas Hanses

10. Griechenland

Stefania – Last Dance

In grünen Stoff verhüllte Tänzer nutzen die Tricks der Greenbox für ein Spektakel mit tanzenden Shorts, unvollständigen Körpern und unsichtbaren Treppen. Der Song selbst stört dabei nicht wirklich. 

Die 18-jährige Stefania ist in den Niederlanden aufgewachsen. Dass sie ihr Heimatland Griechenland vertreten darf, verriet sie nach dem Semifinale, mache sie glücklich, da ihre Schwester bereits für Griechenland Fußball gespielt hat. Jetzt müssen sich die beiden nur noch etwas für den Bruder einfallen lassen!
Last Dance singt sie – und wir verstehen immer Let’s Dance – und genau darum geht es ja!

Chancen: Das kommt sicher an. Bei Technik-affinen und Radiopop-Fans. Mittelfeld.

Greenbox-Spektakel | Bild: EBU / Thomas Hanses

11. Schweiz 

Gjon’s Tears – Tout l’Univers

Berührender, in höchsten Tönen klagender Chanson über den Kreislauf des Lebens mit artifizieller Choreo. Favorit!

Große Hoffnungen lasten auf dem 22jährigen  Gjon‘s Tears (Gjon Muharremaj). In Fankreisen wurde er sehr hoch gehandelt und er hat die Nerven, dem Druck standzuhalten. Sein Großvater habe ihn zum Gesang gebracht und singen kann er! Für Rotterdam hat er sich, obwohl er kein Tänzer sei, für eine Choreografie entschieden, um den unterschiedlichen Gefühlen in seinem Chanson Ausdruck zu verleihen. Er polarisiert: manche finden seine Stimme anstrengend. Aber zweifellos kann er einen Moment der Verzauberung auf die Bühne bringen.

Chancen: Da ist alles möglich, sogar ein Sieg.

Sänger mit Charisma: Gjon | Bild: EBU / ANDRES PUTTING

12. Island

Daði og Gagnamagnið – 10 Years

Nerdige Isländer mit Kultstatus: einzigartige Kostüme, pointierte Choreografien und der unverwechselbare 2,08 m große Sänger Daði. Seit 7 Jahren lebt dieser in Berlin.

Daði og Gagnamagnið sind die aus einem Videospiel gefallenen Außerirdischen in diesem Contest und beglücken mit ihrer Performance die ESC-Welt. Hier werden der Einsatz der Windmaschine, der dreiteilige Kreissynthesizer, der grün-pixelige Einheitslook und die Perfektion der Synchronität von Bewegungen so gekoppelt, dass im besten Fall aus dem ersten Stirnrunzeln eine begeisterte Zustimmung erwächst. 10 Years ist der dritte Beitrag in der Liebestrilogie: 2017 im isländischen Vorentscheid Teil 1 Is This Love?, 2020 im entfallenen Jahrgang Teil 2 Think About Things (Lied an die Tochter) und 2021 jetzt Teil 3 (über die 10 Jahre mit seiner Frau Árný).
Als Wahlberliner sind Daði und Árný gewissermaßen unsere Berliner Kandidaten für Rotterdam. Die ganze Band aus insgesamt sechs Mitgliedern ist ein 2017 gegründetes Projekt von Familie und Freunden Daðis, die alles gemeinsam produziert und entwickelt haben – bis hin zu den Comics auf dem Screen oder dem dreigeteilten Synthesizer.
Zum diesjährigen ESC gehört auch, dass Backing-Vocals vom Band kommen. Bei den Isländern ist dies ein ganzer Chor, an dem sich auch der deutsche Kandidat Jendrik mit seiner Stimme beteiligt hat.

Da ein Mitglied der Band am Mittwoch in Rotterdam positiv auf Corona getestet wurde, können Daði og Gagnamagnið leider nicht mehr live auftreten. Stattdessen werden sie mit einer Aufzeichnung ihrer Probe vom 13.5. am Wettbewerb teilnehmen, was sich im visuellen Ergebnis für die Zuschauer:innen nicht unterscheiden dürfte. Dies gehört zum vorher vereinbarten Szenario des Pandemie-Wettbewerbs.
Vermutlich werden sie dennoch live zu sehen sein: mit einer Einspielung aus dem Hotel, wo die negativ getesteten Bandmitglieder gemeinsam die Show verfolgen.

Chancen: Mit ihrem letztjährigen Beitrag Think About Things hatten sie gute Chancen auf einen Sieg – das wird diesmal nicht klappen, aber die Top-10 sind ein realistisches Ziel.

Vergangene Woche schien die Welt im Tourbus noch in Ordnung | Bild: mit freundlicher Genehmigung von Daði og Gagnamagnið

13 Spanien

Blas Cantó – Voy A Querdarme

Einsam und zurückgelassen singt der 1,71 Meter große Sänger (29) seine Trauer ins Universum – und droht von einem 6 Meter durchmessenden Mond erschlagen zu werden

2011 versuchte es Blas Cantó schon mal, mit der Boygroup ‚Auryn‘ im spanischen Vorentscheid den ESC zu erreichen und landete damals auf dem zweiten Platz.
Sein Lied ist eines über Trauer. Fragil und a capella beginnt es und steigert sich immer weiter. Ob es seine Wirkung zeigen kann, hängt von der stimmlichen Form des Sängers ab.

Chancen: Liegt bei den Buchmachern auf dem letzten Platz, was natürlich nur heißt, dass seine Chancen auf Sieg am geringsten eingestuft werden. Die hat er tatsächlich ganz sicher nicht, aber ein letzter Platz im Finale wäre absolut unverdient.

Blas und der Mond | Bild: Martin Schmidtner

14. Moldawien

Natalia Gordienko – SUGAR

Durchinszenierter ESC-Trash mit eingängigem Refrain, anzüglichem Text und viel nackter Haut. Am Ende liegen Männer erschöpft am Boden – das Publikum auch.

Moldawien bietet ein Stück ESC-Trash des Meisters Filipp Kirkorov, der den Majuskelsong SUGAR für Natalia Gordienko geschrieben hat. Vier überaus glatt rasierte Männer liegen am Ende der drei Minuten völlig erschöpft danieder, während die Sängerin triumphiert. Das war im Musikvideo (Super-Trash-Link) mit seinen Eistüten eigentlich noch ansprechender, gehört aber zweifellos zu dem bereits unter Serbien angesprochenen Phänomen, hier aber deutlich erkennbar als von einer Frau verkörperten Männerphantasien.
Die 33-jährige Sängerin zeigte sich bei Proben und Shows in sehr unterschiedlicher stimmlicher Kondition. Aber sie trumpft mit dem vermutlich am längsten gehaltenen Ton der ESC-Geschichte von 17 Sekunden auf. Große Verwirrung, als sie bei zwei Stellproben ungeschminkt erscheint und Franziska Giffey aus dem Gesicht geschnitten aussieht!

Chancen: Bereits die Leistung im Semifinale hat eigentlich keinen Finaleinzug gerechtfertigt. Dank des Œuvres und der Stellung Kirkorovs in der osteuropäischen Popwelt wird es aber nicht der verdiente letzte Platz werden.

SUGAR | Bild: EBU / Andres Putting

15 Deutschland

Jendrik – I Don’t Feel Hate

Zu überladen und hektisch, sagen die einen. Endlich mal was Neues, die anderen.

Einen deutschen Beitrag mit Choreografie, bunt und schrill – das gab es lange nicht. Jendrik (26) ist Musical-Darsteller und beherrscht all das. Er singt, tanzt und steppt gegen Hass und Mobbing in der realen und virtuellen Welt.
Ob allerdings ‚die Hand‘ auf der Bühne verstanden werden wird? Mal ist sie ein Stinkefinger, dann wieder (weil sie ersteres laut Reglement nicht sein darf) ist sie ein Peace-Zeichen, wie Jendrik erklärt. Die meisten werden es jedoch als Victory-Zeichen sehen…und das passt nicht wirklich zum Inhalt des Songs.
Jendriks Traum auf den Song-Contest wurde durch die Pandemie Wirklichkeit, als er die Zeit nutzte, mit Freund:innen und Kolleg:innen ein Garagen-Video zu seinem Titel zu produzieren und beim NDR einzureichen. Er hat viel hineingesteckt und erntet hoffentlich auch Anerkennung für sein Engagement.
Jendrik musste wie alle wegen der Pandemie-Regeln ohne persönliche Unterstützung nach Rotterdam reisen, hat jedoch die Stimme seines Freundes Jan als Trost dabei, da dieser als Backing Vocal einen Part im Song übernommen hat.

Chancen: Leider nicht die besten, auch wenn wir uns das „derbe nice“ Gegenteil für ihn wünschen.

Die Ukulele gehört zu Jendrik, wenn er sie nicht in die Luft schmeißt | Bild: Martin Schmidtner

16. Finnland

Blind Channel – Dark Side

Es gibt Momente in der Pandemiezeit, die brauchen ein Ventil. Finnland hat es: einen ESC-Schlager, verkleidet als Heavy-Metal-Song mit ‚Stinkefinger‘ und einem markanten Schrei zum Schluss.

Da hatte jemand den richtigen Riecher: die Menge in der Ahoy-Arena möchte endlich wieder Konzert-Atmosphäre erleben und die Finnen bieten genau das. Die Halle tobt! Hier tanzt kein Stinkefinger über die Bühne, stattdessen ruft die 4-köpfige Band Blind Channel mit ihren zwei Sängern zum Hochstrecken desselben auf. markant haben sie die eigenen Mittelfinger rot eingefärbt. Join the Dark Side!, fordern sie das Publikum auf. Das scheint einen Nerv zu treffen und die Show hat es in sich!

Chancen: Die Gunst um harte Rocktöne müssen sich die Finnen mit Italien teilen, doch nach dem Semifinale katapultierten die Buchmacher sie in die Top 10.

Join! Blind Channel! | Bild: EBU / THOMAS HANSES

17. Bulgarien

VICTORIA – Growing Up Is Getting Old

 Einsam und verlassen auf einer Scholle sinnt die 23-jährige Victoria über das Leben nach.

Umspült von Wellen, versehen mit Bildern der Vergangenheit, rinnt der Sand des Lebens durch die Hände. Die Botschaft von Growing Up Is Getting Old ist nicht wirklich lebensbejahend, sondern eher schulterzuckend hinnehmend, irgendwie ein bisschen wie die Montag-Morgen-Ist-Doof-Kaffeetasse. Doch eventuell trifft sie damit die Stimmung vieler…

Chancen: Im vergangenen Jahr wurden ihr höchste Chancen eingeräumt – das dürfte mit dem diesjährigen Titel nicht klappen. Aber alle, die Billie Eilish lieben, werden auch für VICTORIA anrufen. Top 10.

VICTORIA | Bild: EBU / THOMAS HANSES

18. Litauen

The Roop – Discotheque

Elektro-Pop vom Feinsten mit mitreißenden Dance-Moves lädt zum Post-Corona-ESC nach Vilnius.

Gelb ist heute die Hoffnung! Und die brauchen wir, denn auch wenn sich eine Zeitlang allein gut aushalten und tanzen lässt, so bricht doch langsam der Wahnsinn durch – genial verkörpert von Sänger und Schauspieler Vaidotas Valiukevičius (39).
Die Band gibt es seit 2014. Im vergangenen Jahr waren sie schon Anwärter auf einen möglichen Sieg und die deutsche Ersatzabstimmungs-Show aus der Elbphilharmonie hatten sie gewonnen.
The Roop liefert mit Discotheque den ESC-Corona-Song und setzt ein gelbes Zeichen. Besonders ans Herz gewachsen ist uns der engagierte Tänzer in kurzen Hosen.

Chancen: Bei vielen sind sie Favoriten, doch die Buchmacher sehen sie nicht mehr in den Top 10. Doch dort gehören sie hin!

Tanz den Corona! | Bild: EBU / Andres Putting

19. Ukraine

Go_A – Shum

Post-Corona-Rave vom Feinsten

Der Titel ist Programm: Shum bedeutet Lärm. Die 2012 gegründete Formation Go_A zwingen einen förmlich dazu, aufzuspringen und mitzutanzen. Hier gibt es eine mitreißende Kombination von folkloristischem „Weißen Gesang“ (Schreigesang) mit Technobeats. Und auch wenn das Alleintanzen sicherer ist, zusammen wäre es viel besser. Und ja, bald ist es wieder möglich, denn nach jedem Winter kommt ein Frühling und wir folgen gerne der ukrainischen Band auf ihre weiße, noch vom Winter verschneite Insel im Wald, wo wir Hanf säen und auf das Ende der Pandemie warten.
Zwei Tänzer, 3 Bandmitglieder und die 32-jährige Sängerin Kateryna Pavlenko heizen mit ihrer perfekt sitzenden Show zum Post-Corona-Rave ein.

Chancen: Sie werden begeisterte Fans haben und ebensolch starke Abneigung auslösen. Für uns gehören sie definitiv in die Top-3.

Lärm gegen die Pandemie | Bild: EBU / Thomas Hanses

20. Frankreich

Barbara Pravi – Voilà

Piaf geht doch immer, oder?

Melancholie passend zu Pandemie. Ein Chanson in absoluter Perfektion – dazu bedarf es neben der 28jährigen Sängerin, die auch den Siegertitel zum Junior-ESC 2020 geschrieben hat, nur noch eines Mikrofonständers.
Barbara Pravi treibt den schönen Walzer voran, wird selbst zur Getriebenen, aber behält immer die Oberhand, bzw. zwei wild rudernde Hände.
Frankreich hat zum letzten Mal 1977 den ESC gewonnen.

Chancen: Jurys und der klassische Fan des Grand Prix d’Eurovision de la Chanson werden begeistert sein. Genug Charisma für den Sieg ist vorhanden, aber das televotende Publikum wird jünger: Top 10.

Viva la Diva | Bild: EBU / Andres Putting

21. Aserbaidschan

Efendi – Mata Hari

Vermutlich kein Song für Historiker:innen 

Für die 30-jährige The Voice of Azerbaijan-Gewinnerin Samira Efendi, die gerne und ausgiebig Pilates praktiziert, brauchte es fünf Anläufe, bis sie 2020 als Vertreterin des Landes des Feuers für den ESC ausgewählt wurde.
Im vergangenen Jahr durfte sie bei einem durchaus als „catchy“ wirkenden Dancefloor-Song über Cleopatrrrrrrra das R rollen, während der Chor etwas sang, das wir eher bei einem Räucherritual nordamerikanisch-indigener Völker erwartet hätten.
Doch Cleopatra durfte nicht mehr antreten – jetzt präsentiert uns Efendi mit ihren vier Tänzerinnen eben Mata Hari.
Historiker sollten jetzt ganz stark sein, denn mit Geschichte nimmt es der Song nicht so genau. In einem Pseudo-Ethno-Stil wird Mata Hari nur besungen, um die Illusion von Geheimnisvollem zu wecken. Die Inszenierung ködert durch optische Reize und orientalisches Flair, ohne zu überzeugen. 
Auf die Idee mit der Agentin war Norwegen bereits 1976 gekommen – Anne Karine sang Mata Hari und erhielt den letzten Platz.

Chancen: Das wird Efendi nicht passieren, denn mit 12 Punkten aus Malta muss immer gerechnet werden. Viel wird das nicht bringen, aber einen Platz unter 20 sicher verhindern.

Agentinnen beim Pilates | Bild: EBU / Thomas Hanses

22. Norwegen

TIX – Fallen Angel

Eine Botschaft: nur wer nicht perfekt ist, ist wertvoll!

Als Kind litt er unter den Tics seines Tourette-Syndroms, jetzt ist TIX mit 28 ein erfolgreicher Sänger – mit seinem Song erkletterte er die norwegischen Charts.
Doch der Kampf mit seinen Dämonen prägt ihn bis heute und bei verschiedenen Pressekonferenzen konnten wir ihn in sehr unterschiedlichen Stimmungen erleben. Auch wenn wir misstrauisch werden, wenn die Botschaften von ESC-Songs oft wie eine Monstranz vorneweg getragen werden, überzeugte uns die Ernsthaftigkeit von Andreas Haukeland, wie der Sänger mit bürgerlichem Namen heißt.
Es ist die gleiche Ernsthaftigkeit, die er im Gespräch mit Jugendlichen mit Tourette an den Tag legt, die der eigentlich erst mal befremdlich-trashig wirkenden Inszenierung seines Titels mit einem Engel im Eisbärenfell und riesigen Flügeln zugrunde liegt und diese plötzlich schlüssig erscheinen lässt.

Sein Appell: nur wer nicht perfekt ist, ist wertvoll.  

Chancen: Irgendwo schwer einschätzbar zwischen 11. und 18. Platz

Engel an seine Dämonen gekettet | Bild: EBU / Andres Putting

23 Niederlande

Jeangu Macrooy Birth Of A New Age

Rhythmisch starker Gospel, denn: Your rhythm is rebellion!

„Yu no man broko mi“ – das ist Sranantongo und heißt: Du kannst mich nicht brechen. Der jetzt 27-jährige Jeangu, in der ehemaligen niederländischen Kolonie Surinam geboren, verließ seine Heimat, um als schwuler Mann den Zwängen einer Machismo-Kultur zu entkommen. Das neue Zeitalter, dessen Geburt in diesem Gospel heraufbeschworen wird, gibt es aber nicht umsonst. Wir müssen schon bereit zum Widerstand sein. Der uns antreibende Rhythmus: Rebellion.
Auch Jeangus Bruder lebt inzwischen in den Niederlanden und steht mit auf der Bühne.
Ein Lied, das auf keinem CSD mehr fehlen darf. 

Chancen: Leider schlecht. Selbst in den Niederlanden wird der Song wenig gespielt und ist wenig bekannt und wird ganz und gar unverdient auf einem der letzten Plätze landen. Schade.

Jeangu Macrooy an einer Hauswand gegenüber der Ahoy-Arena | Bild: EuroVisionen

24 Italien

Måneskin – Zitti E Buoni

Aggressiver, genderfluider Indie-Rock aus Italien lässt die Wände wackeln und schreit seine Botschaft hinaus: wir sind anders als die anderen!

Es ist jedes Mal etwas Besonderes, das San Remo für Italien zum Song Contest schickt. Diesmal ist es – obwohl die wenigsten beim San Remo Festival an so etwas denken – knallharter italienischer Rock: Avantgardistisch, Geschlechterrollen hinterfragend, lyrisch, aber auch laut und hart.
Wenn Finnland den Rock-Schlager beisteuert, so handelt es sich bei Måneskin (dänisch für Mondschein) um den Rock-Chanson.
Zitti E Buoni (Ruhig und brav) hat bereits einen Preis gewonnen: den für den besten Text eines ESC-Jahrgangs. In der Jurybegründung heißt es:

„ZITTI E BUONI ist ein sich nicht entschuldigendes Lied mit sehr eindrucksvollen Bildern. Die Metaphern im Text sind gut ausgewählt und sprechen ständig zu einem. Es ist kein süßes Lied und deshalb sind die Bilder nicht schön, sondern absichtlich störend. ZITTI E BUONI ist ein roher Schrei von den Außenseitern dieser falschen Gesellschaft.“

– das berichtete heute esc-kompakt.

Der 22-jährige Sänger Damiano kommt aus dem Bühnenhintergrund. Wie ein Conférencier führt er uns ins Panoptikum einer allzeit Theater spielenden, ausgrenzenden Gesellschaft. Doch dann wird es laut und rebellisch: Tritt die Türen ein! Wir müssen raus und weg. Wir sind anders, nicht wie die! Wir sind anders, wir sind nicht wie sie!

Chancen: Italien ist neben Frankreich momentan Favorit der Buchmacher. Doch zu oft schon haben wir in den vergangenen Jahren auf einen Sieg Italiens gehofft, die fast durchweg Spitzentitel zum ESC geschickt haben. Wir hoffen, dass es diesmal klappt – es ist überfällig.

Damiano | Bild: EBU / Adres Putting

25. Schweden

Tusse – Voices

Ein androgyner und queerer Auftritt mit viel Strahlkraft, der vielen Mut auf eine bessere Welt machen möchte.  

Der 19-jährige Tusse geht für Schweden an den Start, probt, gibt Pressekonferenzen und sitzt dazwischen im Hotelzimmer und lernt fürs Abi.
Für Schweden zu singen, mache ihn stolz. Er könne dem Land etwas dafür zurückgeben, dass es ihm Zuhause wurde, eine Ausbildung und eine Zukunft bot.
Voices ist als Komposition kein Knaller, aber Tusses Begeisterung und seine Strahlkraft beim Vortrag verleihen dem Song Gewicht.
Wenn Tusse vor die Presse tritt, wird er zur aufgedrehten Plaudertasche. lachend erzählt er Anekdoten oder spricht über die Farbe seiner Fingernägel oder wie sehr er sein Bühnenoutfit schätzt – im nächsten Moment wird er nachdenklich und verrät, sein Lied sei für alle, die sich einsam fühlen, denn kein Mensch sei wirklich allein.

Chancen: Trotz eines hervorragenden Startplatzes am Ende des Finales, droht der Song nach Italien unterzugehen. Die übliche Top-Ten-Platzierung dürfte richtig schwer werden.

Tusse | Bild: EBU / Andres Putting

26. San Marino

SenhitAdrenalina

Opulente Kostüme und Flo Rida

Outfit mit Schweißermasken, eine riesige Madonnenmaske und eine Drehscheibe in Rautenform, das kleinste Land im Wettbewerb bietet ein großes Spektakel.
Die 41-jährige Sängerin Senhit, 2011 schon einmal dabei, startete einen großen Rummel um die Frage, ob der vor 10 Jahren sehr erfolgreiche US-Rapper Flo Rida für Adrenalina wie im Video nun auch in Rotterdam mit auf die Bühne kommt.
Inzwischen kennen wir die Antwort und dürfen vermuten, dass der Platz am Ende des Wettbewerbs schon irgendwas mit Herrn Rida und der Etablierung des ESC als American Song Contest im nächsten Jahr in den USA zu tun haben könnte.
Andererseits ist es immerhin ein schmissiger Abschluss-Song und deshalb vielleicht nur deshalb auf diesem Startplatz.

Chancen: Als Finale des Finales könnte Adrenalina durchaus mehr Punkte abstauben als verdient. Die Halle hat im Semifinale zumindest schon mal getobt.

Senhit und Flo Rida | Bild: EBU / Andres Putting

Show und Moderation

Singende Moderator:innen

Wir haben die Moderator:innen bereits in unseren Beipackzetteln zu den Semifinals vorgestellt und werden nicht nochmal damit langweilen. Immerhin singen drei der vier am heutigen Abend auch.

Show und Pausenacts

Zwar konnten wir bereits gestern bei den Generalproben sehen, was uns heute so erwartet, aber wozu sollten wir das vorab verraten?! Hier eine Liste der am Oausenact beteiligten niederländischen Künstler:innen: (Link)
Nur auf den besonderen Charakter der Show unter Pandemiebedingungen sollte vielleicht hingewiesen werden. Es können einfach nicht alle auf die Bühne der Halle und deshalb muss auf Schaltungen und Filmmaterial zurückgegriffen werden.

Die deutsche Jury

50 % der Bewertung kommt aus dem Televoting (in Deutschland per Anruf oder SMS möglich), die anderen 50% von den nationalen Jurys.
Heute hat der NDR die Mitglieder der deutschen Jury, die bereits gestern Abend anhand des „Juryfinales“ ihre Stimmen abgegeben hat, bekannt gegeben.
Janin Ullmann, Ivy Quainoo, Constantin Zöller, Uwe Kanthak und Matthias Arfmann. sind die 5 Jurymitglieder, die hier auf eurovision.de näher vorgestellt werden.

Hier gibt es das Finale:

  • Natürlich ab 21 Uhr in der ARD, mit allem zugehörigen Vor- und Danach-Programm sowie den Kommentaren von Peter Urban
  • Wer es lieber das Original aus Rotterdam ohne aus Hamburg zugesprochene Kommentare hören möchte, kann dies im Stream auf dem Youtube-Kanal von eurovision.tv (Link)

2 Antworten auf „Vor Risiken und Nebenwirkungen wird gewarnt – unser Beipackzettel zum Grand Final des Eurovision Song Contests 2021 in Rotterdam“

  1. Eure Berichte sind so gut! Sehr informativ und unterhaltsam, ich freue mich auf euren „Finalbericht“….und ja, Italien hat es verdient (das wäre, gerade nach dem für mich nicht gewürdigten überragenden Soldi von Mahmood, auch mal an der Zeit)!

  2. Voila, da wart ihr aber ziemlich treffsicher in den allermeisten Fällen – Gratulation! Merci für eure wieder sehr informativen Berichte mit dem etwas anderen Blick auf das Geschehen. Bis die Tage – Bussi!

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