Der erste Probentag: Arie, Choral und Liebestod

Bulgarien

Um 19.55 Uhr begann am Sonntag, dem 29. April die letzte Pressekonferenz des Tages: Mitfavorit Bulgarien präsentierte sich als 10. Land am ersten Probentag mit der ersten und einzigen Gruppe des Tages – Equinox mit Bones.

Wie immer darf die Presse die erste Probe nicht mit im Saal verfolgen, sondern bekommt nur drei Durchläufe auf dem Bildschirm präsentiert. Doch diese drei mal drei Minuten reichen häufig aus, damit Favoriten sterben oder neue Lieblinge gewonnen werden.

So auch heute bei Bulgarien: Bombastische Choralgesänge mit Mystiksound werden in der dargebotenen Übertragung zu einem ermüdenden Gruppensingen in Schwarz mit aufgesetzt wirkenden Stellungswechsel.

Doch in den ersten Tagen gibt es nicht nur den Blick auf die Bildschirme: Jeder Beitrag stellt sich zwanzig Minuten den Fragen der Presse im sogenannten Meet & Greet. Schnell können wir die Künstlerinnen und Künstler einordnen in Marionetten ihrer Delegation, die die verordnete Rolle spielen und sich freuen, das vorgegebene Lied zu singen, oder als eigenständige Persönlichkeiten, die das Lied leben und oft auch selbst (mit)geschrieben haben.

Das bulgarische Quintett ist unglaublich sympathisch und man glaubt ihnen, dass das Lied eigentlich von der Kraft der Liebe handeln soll, die uns aus dem Dunkel herausreißt – allein wir fühlen es nicht.

Aserbaidschan

Vor Bulgarien debütierten am ersten Probetag die weiteren neun der ersten zehn Acts des ersten Semifinales am 8. Mai: eine Gruppe, vier Männer und fünf Frauen. Die fehlenden neun haben ihre Premiere am Montag, den 30. April.

Und die Reise startete in Aserbaidschan, einem Land, das noch nie den Einzug ins Finale verpasst hat. Ganz in Weiß geht es auf der Bühne von Berggipfel zu Berggipfel. Aisel besingt mit X My Heart die Kraft der Liebe und das griechisch-aserbaidschanische Team schafft es natürlich wieder einmal das Feuer, Nationalsymbol des Landes am Kaspischen Meer, in den Text einfließen zu lassen.

Und Aisel hat Geschmack: Ihr gefällt der deutsche Beitrag besonders gut, verrät sie beim Meet&Greet.

Aisel und Team | ©Marc Schulte
Island

Weiß-rot geht es weiter und der 19jährige Ari Ólafsson singt Our Choice. Doch das Lied ist unglaublich ruhig, um nicht zu sagen: langweilig und plätschert einfach nur dahin. Dabei steht das Rot doch für die Lava unter der Eisoberfläche. Die Herzen der Pressemeute gewinnt der junge Mann jedcoch ganz klar mit seinem Medley von vier ESC-Songs auf der Pressekonferenz.

Ari Ólafsson | © Marc Schulte
Albanien

Tattoos, Lederriemen, katholisch, Ehemann – diese albanische Mischung bietet uns Eugent Bushpepa mit Mall.
Melancholie über den Verlust eines Menschen wandelt sich langsam in eine optimistischere Stimmung – darum soll es in dieser Softrockballade gehen. nicht nur der Song, auch die Inszenierung sind durch und durch italienisch. Sollte es mit der Musikkarriere nicht klappt, greift Plan B: dann wird Eugent Zahnarzt.

Eugent Bushpepa | © Marc Schulte
Belgien

Mit dem Namen Laura Groeseneken ist eine Erfolg in der Musikbranche doch etwas erschwert, deswegen griff die am 30. April in Lissabon 28 Jahre alt gewordene zu einem probaten Mittel: Sie nannte sich einfach Sennek, ein Name,  der Stärke ausdrückt und nicht zu weiblich wirkt.
Ihr Lied A Matter of Time ist eine James-Bond-Ballade, die vom Text so abstrakt sein soll, dass sie sowohl als Lied über Liebe als auch über globale Erwärmung verstanden werden kann. Wie eigentlich alle an diesem Tag lieferte auch Sennek eine stimmlich überzeugende Probe ab.

Sennek | © Marc Schulte
Tschechische Republik

Mikolas Josef ist ein Favorit in diesem Jahr beim ESC. Sein anzüglich frecher Song Lie To Me macht gute Laune. Mit seinen 22 Jahren spielt er ganz bewusst, bewaffnet mit einem Ranzen und einer Fensterglas-Brille, seinen Pennäler-Charme aus. Und den Abschluss der unglaublich vielseitigen, an manchen Stellen noch etwas holprigen Choreo ist ein Salto Mikolas`- mit direktem Übergang zurück ins Tanzen. Wow!
Und dann die böse Überraschung: Die Teilnahme Mikolas an der Pressekonferenz wurde abgesagt, weil er sich im Krankenhaus befindet. Nach der Probe tat ihm seinen Rücken weg. Vorsorglich wurde er vom Arzt ins Krankenhaus geschickt. Und Stunden später teilte er per Instagram mit, dass es leider noch nicht gut aussieht. Er wolle auf jeden Fall auftreten, egal wie, postete er auf Instagram. Das hoffen wir ganz fest für ihn!

Mikolas Josef gestern auf Instagram
https://www.instagram.com/p/BiKmTzNnUkU/?taken-by=mikolasjosef
Litauen

Ieva Zasimauskaité überlegt sich in ihrem Lied was passiert When We’re Old. Sie will dann auch noch so verliebt sein, wie sie das bei einigen älteren Paare gesehen hat, also bei so richtig alten Paaren. Die 24jährige nervt schnell in der Pressekonferenz mit ihrer unglaublich aufgesetzten und alles übertönenden Fröhlichkeit und Begeisterungsfähigkeit für alles Neue und Tolle. Und das Lied erhält noch eine besondere Prise Kitsch dadurch, dass am Schluss ihr Mann auf der Bühne derjenige ist, der alle Gunst erhält – live auf der Bühne in Lissabon, obwohl er gar nicht auf die Bühne wollte, denn „er ist doch ein Mann“, so Ieva.

Ieva Zasimauskaité | © Marc Schulte
Israel

Solch antiquierte Rollenbilder zu hinterfragen ist Teil der Mission von Netta. Das Lied Toy setzt sich mit dem Thema Bullying auseinander: Bullying komme von der Angst und diese Angst zu bekämpfen und sich und seinen Körper zu akzeptieren, das müsse sein. Da können einem die gackernden Männer doch gestohlen bleiben. „Dein Spielzeug bin ich nicht, du dummer Junge!“, so erklärt sie ihre Botschaft.
Die erste Probe ist noch etwas verhalten, es sei ihr dabei erst mal nur um die Technik gegangen, sie werde ab der zweiten Runde definitiv noch mehr aufdrehen, erklärt die charismatische Sängerin, die als pink-schwarzes Wesen mit Micky-Maus-Frisur sofort ins Auge sticht. Und mit den Winkekatzen auf der Bühne kann es für das abergläubische Team eigentlich nicht mehr schief gehen.

Netta | © Marc Schulte
Weißrussland

Nach diesem Hoch folgt der heutige Verkehrsunfall: Die Aufführung aus Belarus ist so abgrundtief unfassbar ungewöhnlich, dass man wie gebannt jede Sekunde verfolgt und mit offenem Mund die drei Minuten erlebt. Alekseev hat mit Forever einen Klassiker für alle ESC-Zusammenschnitte künftiger Jahre geschaffen, der die Ikonographie der ‚Roten Rose‘ auf ganz besondere Weise aufgreift. Eine rote Rose, ein gespannter Bogen und ein rosig-roter Rücken werden im Gedächtnis bleiben. Ein Zahnweiß heller als der weiße Anzug verstärkt noch den Eindruck eines Kunstproduktes. Und nur weil es so schön passt: Seine Freundin hat ihn verlassen, weil sie ihn vor die Wahl stellte: Musik oder sie!

Alekseev | © Marc Schulte
Estland

Und dann kommt das nächste Lied, ein Lied, das die ESC Welt spaltet: La Forza, gesungen von Elina Nechayeva für Estland, soll Oper und elektronische Musik verschmelzen.
Perfekt mit einem als Projektionsfläche funktionierendem Kleid ausstaffiert, wird die Drei-Tenöre-Methode jetzt auf den Kolloratur-Sopran-Bereich zum wiederholten Male angewandt. Auch die Inszenierung mit Sängerin auf Podest und Projektionen aufs Kleid hat es bereits mehrmals gegeben. Und dennoch gibt es Anhänger dieser Art von Beiträgen.
Die in ihrem übergroßen Kleid während des Auftrittes verharrende Künstlerin kommt mit wahrlich hochhackigen Schulen zur Pressekonferenz und ist mehr als glücklich. Mehr gibt es über ihr Meet&Greet eigentlich nicht zu berichten.

Elina Nechayeva | © Martin Schmidtner

Wir sind glücklich, dass der erste lange Tag zu Ende geht und beschließen den Probeabend mit dem Blick auf die Seilbahn am ehemaligen Expo-Gelände.

Seilbahn über das ehemalige Expo-Gelände | © Marc Schulte

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