Der zweite Probentag: Priesterinnen, Lackstiefel und eine Fetisch-Party

Am zweiten Probentag, dem 30. April, standen die Startplätze 11 bis 19 des ersten Semifinales auf dem Programm. Nach den Favoriten Tschechien und Israel am ersten Probentag waren die Erwartungen etwas gedämpfter und wir starteten entspannt in den zweiten Tag.

Mazedonien

Doch dass Mazedonien mit die Gruppe Eye Cue und dem Titel Lost and Found das schon längst überkommende Bild der balkanesken Schönheit, die viel Haut zeigt und sich aufreizend lasziv bewegt, dazu „come and take me“ singend, wieder aufleben lässt, macht uns dann doch sprachlos. Zwar wird die aktuelle Modefarbe Pink gewählt, doch sonst ist nichts, aber wirklich nichts modern und zeitgemäß.
In der Pressekonferenz erfahren wir, dass die Mischung von eigentlich drei Liedern zu einem Lied doch toll sei, da man so drei Lieder zum Preis von einem bekomme. Und die Sängerin würde die Energie doch nur zu den verschiedenen Punkten auf der Bühne bringen….     #epicfail

Eye Cue: Marija Ivanovska | © Marc Schulte
Kroatien

Kroatien startet mit einem sehr ruhigen Lied, das seinem Titel Crazy von der Melodie so gar nicht entsprechen will. Erfreulich, dass die Sängerin Franka im schwarz-transparenten Kleid als erste die ganze Bühne ganz für sich allein ausnutzt und damit ohne Brimborium und Tänzer erstaunlich in den Bann ziehen kann.
Sie sei großer ESC-Fan, die es schon zweimal versucht hat, beim ESC teilzunehmen, verrät sie anschließend. Für den Auftritt hat sie den Rat ihres Vaters beherzigt, alleine aufzutreten. Sie hatte auch eine Option mit Tänzern gehabt, dies aber bewusst abgelehnt.

Franka | © Marc Schulte
Österreich

Mit Nobody But You setzt Österreich ein Zeichen, dass es modernen, eingängigen und flotten Pop kann. Cesár Sampson überzeugt und führt vielleicht zum ersten Mal die graue Edel-Trainingshose als Modeelement auf der ESC Bühne ein. Und er ist jetzt zum dritten Mal dabei, doch in den letzten beiden Jahren war er nur Banking für Bulgarien und erreichte Platz 4 und 2. Die Inszenierung würde sein Lied genau richtig wiedergeben, alleine erhaben auf einem Berg stehen, um sich zu orientieren, um dann wieder in das Leben einzutreten.

Cesár Sampson | © Marc Schulte
Griechenland

Wie die Pythia im Orakel von Delphi, vom Wind umspielt schreitet Yianna Terzi über die Bühne, hebt die linke, blau gefärbte Hand und singt Oniro Mou für Griechenland. Ganz bewusst werden die nationalen Farben blau und weiß eingesetzt. Doch der zum Schluss aufgeführte, fast verzweifelt wirkende Ausdruckstanz mag das Pathos des Liedes nicht wirklich zu unterstützen. Und obwohl der Song das Verhältnis zwischen Griechenland und seinem Volk darstellen soll, sei er in keiner Weise politisch, so die Sängerin. Das irritiert, denn Politik beschreibt ja alle Maßnahmen, einer Regierung, die auf die Verwirklichung bestimmter Ziele in Staat und Gesellschaft hinweisen.
Immerhin jubeln einige im Meet&Greet, dass Griechenland endlich wieder sein stolzes Erbe und seine Tradition auf die Bühne bringe.
Und Yianna Terzi habe nach einem zehnjährigen Aufenthalt in den USA einfach das Bedürfnis gehabt, zum ersten Mal ein Lied auf Griechisch zu schreiben.

Yianna Terzi | © Marc Schulte
Finnland

Sara Aaaltos Beitrag Monsters aus Finnland war uns ja gestern bereits einen besonderen Beitrag wert. (-> zum Nachlesen). Er hinterlässt uns gespalten: eine tolle Botschaft und eine extrem sympathische Künstlerin wollte im Staging vermutlich zu viel erreichen und hat zu viel inszeniert. Zu „camp“ geht zu Lasten der schönen Stimme.

Saara Alto | © Marc Schulte
Armenien

Einsam und allein in einem Steinkreis a la Stonehedge (die Bühne in diesem Jahr bietet zwar keine LED-Wand, dafür lässt sich umso mehr aus dem Bühnenboden nach oben fahren) singt Sevak Khanagyan für Armenien Qami, was schlicht und einfach Wind bedeutet. Es ist das erste Lied aus Armenien beim ESC, das vollständig auf Armenisch gesungen wird und manchmal verlieren Ethno-Weisen bei ihrem Live-Auftritt ihren Reiz. Sevak Khanagyan war erfolgreich in Russland, in der Ukraine und eben in Armenien.

Seine Leidenschaft für die Musik ist zu spüren und steckt an. Im Meet&Greet entpuppt er sich unerwartet als großer mitreißender Knuddelbär.

Sevak Khanagyan | © Marc Schulte
Schweiz

Für die Schweiz tritt das Zwillingsduo Zibbz mit Stones an. Das Markenzeichen der Sängerin Coco: ein purpur-roter Hut. Auch ihr Lied ist ähnlich wie der israelische Beitrag eine Stellungnahme zum Thema Bullying. Wenn ihr Lied dazu beiträgt, dass jemand eine Äußerung nicht tätigt, die geplant war und verletzten hätte sein können, wäre viel erreicht.

Während Stee trommelt, was die Drumsticks hergeben, nutzt Coco die Bühne voll aus, schleppt ihren Mikrophonständer, der wie sie selbst mit purpurroten Bändern geschmückt ist, überall mit hin und bezieht das Publikum direkt in den Song mit ein: „Hebt Eure Hände, wenn Ihr schon mal von jemandem verletzt worden seid!“

Das Geschwisterpaar, das seit zehn Jahren gemeinsam Musik macht und in der Schweiz Mittelpunkt einer Reality Show war, überzeugt in der Pressekonferenz mit ihrer klaren Botschaft. Selbstmorde in unserer Gesellschaft zu verhindern ist eine Aufgabe für uns alle.

Schon lange hat die Schweiz einen Finaleinzug nicht mehr so verdient wie in diesem Jahr. Allein der Auftritt im um Klassen stärkeren ersten Semifinale kann dies verhindern – im zweiten hätten Zibbz wohl keine Probleme, weiterzukommen. Wir drücken ihnen die Daumen!

Coco und Stee, die Zwillinge von Zibbz | © Marc Schulte
Irland

Zum Titel von Irland gab es auch schon Infos auf dieser Seite (-> zum Nachlesen). Und die Pressekonferenz von Ryan O’Shaughnessy zum Lied Together wurde dann auch sehr politisch: Liebe ist Liebe, egal, wer wen liebt, es sei dabei völlig egal, ob ein Mann einen Mann liebe, oder ein Mann eine Frau oder eine Frau eine Frau. Sein Lied sei universell zu verstehen.
Allerdings wurden auch die bereits nach Erscheinen des Videos erhobenen Vorwürfe wieder vorgebracht: eine damals lancierte Meldung über die Zensur des Videos in Russland sei aus Promotion-Zwecke vom Management des Künstlers selbst gestreut worden.
Dagegen überzeugen uns Ryan und seine Crew durch ihr Auftreten im Meet&Greet – bewusst spricht er nicht über seine eigene sexuelle Identität und unterstreicht immer wieder die Universalität seiner Ballade.
Gerade Salvador Sobral habe durch seinen Sieg den ESC den Wettbewerb auf den Kopf gestellt und den Inhalt der Lieder wieder in den Mittelpunkt gestellt. Doch das irische Lied entfaltet seine Wirkung erst nach mehreren Abspielvorgängen – das könnte den Einzug des Liedes in das Finale verhindern, zumal konservative Zuschauende Probleme haben werden für dieses Lied anzurufen.
Übrigens: Ryans Patenonkel Gary O’ Shaughnessy wurde 2001 beim ESC in Kopenhagen für Irland 21.!

Ryan O’Shaughnessy (re) mit Tänzer Alan McGrath | © Marc Schulte
Zypern

Beim letzten Lied des Abends steht wieder ganz die Show im Mittelpunkt. Man hat das Gefühl, Shakira mache eine Stippvisite beim ESC. Es ist aber Eleni Foureira, Queen des Mittelmeer-Pops.
Die Stille wird besungen und dann entfaltet sich Fuego (Feuer) als derart wilde und anspruchsvolle Choreographie, dass Eleni später sagt: „Im nächsten Jahr singe ich aber eine Ballade.“ Ob Zypern den Wunsch realisieren wird, bleibt abzuwarten – bereit sei das Land aber, den Contest im nächsten Jahr auszurichten.

Und auf der letzten Pressekonferenz des Tages wird uns noch einmal ein Outfit der besonderen Art geboten: Zwei rote Schaftlackstiefel und dazu ein weißes Dress – darin eine Sängerin, die vor Energie nur so explodiert. Und die Bühnenshow hat alles: Ananas und Bananen, Feuerwerk und rotes Licht. Und einen Rhythmus, bei dem man sofort einsteigt, wenn er nach dem eher ruhigen Einstieg einsetzt. Aber dieses Lied ist auf seine Art und Weise natürlich auch wieder sehr altbacken und klassisch mediterranes Tanzvergnügen.

Eleni Foureira | © Marc Schulte
Das erste Semifinale

Mit diesem Tag ist die erste Runde des ersten Semis abgeschlossen und wir sind nicht schlauer als zuvor, was die Prognose für den Finaleinzug angeht – zu viele Acts, die ihn eigentlich verdienen würden!

Spannend war jedoch zu beobachten, wie unterschiedlich in diesem Jahr mit den neuen Gegebenheiten einer Bühne ohne LED-Wand umgegangen wird: viele nutzen die Bühnenbodentechnik und lassen ihre Akteure in luftige Höhen entschweben, über Brücken klettern und Treppen auf- und absteigen, andere wiederum verzichten auf alles und versuchen die Bühne, mit ihrer Persönlichkeit und mit Charisma zu füllen (was erstaunlich gut dann gelingt, wenn wenig Bewegung stattfindet!) – eine dritte Gruppe benutzt neue technische Gadgets, um trotz fehlender LED-Wand Inhalte zu visualisieren. In jedem Fall ist es mal erstaunlich abwechslungsreich.

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